Rüstung

Der wehrtechnische Mittelstand – Herausforderungen und Aufgaben in der „Zeitenwende“

Landes- und Bündnisverteidigung – lange von nachgeordneter Bedeutung in Zeiten der sogenannten „Friedensdividende“ – hat durch den russischen Einmarsch auf die Krim 2014 und den Überfall auf die Ukraine am 24.02.2022 wieder eine besondere Bedeutung für die Sicherheit in Deutschland und die dafür mit grundgesetzlichen Aufgaben betraute Bundeswehr bekommen.

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Zur Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit benötigt Deutschland nicht nur militärische Fähigkeiten und den entschiedenen Verteidigungswillen, sondern auch die industriellen Kapazitäten, die durchhaltefähig und technologisch auf dem aktuellen Stand der Wehrtechnik sind. Sie sind erforderlich, um eine auf das Minimum reduzierte Ausrüstung der Streitkräfte wieder aufzubauen, die gegenüber der NATO abgegebenen Verpflichtungszusagen sicherzustellen und die Durchhaltefähigkeit militärischer Kräfte dauerhaft zu gewährleisten. Die Kompetenz der Industrie muss sich dabei auf den gesamten Lebenszyklus des Wehrmaterials erstrecken. Ein wesentlicher „Player“ in diesem Bereich ist der wehrtechnische Mittelstand, der schon seit jeher durch Innovationsfähigkeit und Flexibilität geprägt ist. Gleichzeitig leistet er auch einen maßgeblichen Beitrag zum Aufbau und Erhalt wesentlicher nationaler Schlüsseltechnologien in Deutschland und sichert damit zugleich technologische Souveränität.

Schon immer ist das Thema „Mittelstand“ – vor allem in Abgrenzung zu den „Systemhäusern“ – durchaus kontrovers diskutiert worden. Dabei bietet gerade Deutschland mit dem hier vorhandenen Mix aus Systemhäusern und kleinen und mittleren mittelständischen Unternehmen eine Garantie für Bedarfsdeckung von Material und Ausrüstung deutscher Streitkräfte. Gerade die angesprochene Kombination ermöglicht es, innovative und schnelle Lösungen für den militärischen Einsatz bereitzustellen – stetig sinkende Verteidigungshaushalte hatten allerdings seit den späten 90er Jahren dazu geführt, dass der Verteilungskampf um Rüstungsvorhaben vornehmlich zugunsten der finanziell deutlich besser aufgestellten Systemhäuser ausging.

Bereits 2016 wurde ein erster Versuch unternommen, mit dem Konzept des Bundesministeriums der Verteidigung zur „Stärkung des wehrtechnischen Mittelstands“ dem entgegenzusteuern und die Vorteile des Mittelstands stärker in Rüstungsbeschaffungen einbringen zu können.

Insgesamt 16 Einzelmaßnahmen wurden hierin festgelegt, die in den Jahren seit 2016 einer Bewährungsprobe unterzogen wurden und sich insgesamt gesehen bewährt haben. Durch die seit Februar 2022 erfolgten sicherheitspolitischen und geopolitischen Veränderungen ergibt sich allerdings für die industrielle Landschaft in Deutschland und Europa eine neue Herausforderung. Nicht nur ist durch den Konflikt in der Ukraine die nationale Abhängigkeit von Energie und Rohstoffen deutlich sichtbarer geworden, auch das Bedürfnis nach Sicherheit ist in der Gesellschaft gewachsen und führt zu einem deutlich intensivierten Wunsch nach Aufwuchs der militärischen Möglichkeiten zur Verteidigung. Und hierfür ist wiederum Material und Ausrüstung nötig, die durch die Industrie in Deutschland und Europa bereitgestellt werden müssen.

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Wer ist der wehrtechnische Mittelstand?

Wer aber zählt überhaupt zum wehrtechnischen Mittelstand? Hierzu liefert die 2011 erfolgte Einordnung der Mittelstandsvertreter eine brauchbare Hilfe. Zum wehrtechnischen Mittelstand gehören Unternehmen mit nicht mehr als 1.000 Mitarbeitern, deren Anteile der wertmäßigen Importe nicht mehr als 50% der Gesamtleistung (aus Gewinn und Verlustrechnung) beträgt. Der Jahresumsatz beträgt nicht mehr als 300 Mio. € und das Unternehmen weist eine strategische Ausrichtung im Marktsegment Wehrtechnik auf. Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnologie sind hierbei eingeschlossen.

Stärkung des wehrtechnischen Mittelstands als eine Aufgabe nationaler Sicherheitsvorsorge

Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die „historische Rede zur „Zeitenwende“ von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27.02.2022 wurde erneut deutlich, dass eine souveräne nationale Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit – wie oben bereits erwähnt – Vorsorge- und Versorgungssicherheit verlangt. Dies ist allerdings neben der Sicherstellung der globalen Versorgungswege vor allem nur mit dem Aufwuchs – das heißt Aufbau und Erhalt – im Bereich wehrtechnischer Forschung und Technologie sowie der Herstellung und Versorgung mit Rüstungsgütern möglich. Der hieraus resultierende nationale Kapazitätsaufbau im Bereich der Rüstungswirtschaft verlangt eine hinreichende Planungssicherheit für mittelständische und große Unternehmen, um unter anderem die Finanzierung und Absicherung der notwendigen Investitionen sicherzustellen. Dabei ist zu beachten, dass Unternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie – und hier ist der wehrtechnische Mittelstand eindeutig eingeschlossen – für die Streitkräfte produzieren, um die äußere Sicherheit zu gewährleisten. Eine nationale Aufgabe, die dazu dient, um unsere wertebasierte demokratische Staatsform und Gesellschaft zu erhalten.

Dies vorangestellt liegt es im nationalen Interesse, eine Diskriminierung der Sicherheits- und Verteidigungsunternehmen – einschließlich des wehrtechnischen Mittelstands – zu verhindern und vor allem deren freien Zugang zu Produkten von Banken und Versicherungen zu gewährleisten – was wiederum Auswirkungen auf das Europäische ESP-Projekt hat.

Vor diesem Hintergrund fand Ende Februar ein Gespräch beim Parlamentarischen Staatssekretär Hitschler und Anfang Mai sogar in Gegenwart des Verteidigungsministers statt, das der Erörterung der Rahmenbedingungen und notwendiger Einzelmaßnahmen zur Stärkung des Mittelstands diente.

Die herausgearbeiteten Einzelmaßnahmen sind allerdings nicht nur für den wehrtechnischen Mittelstand von hoher Bedeutung, sondern bedeuten gerade unter dem Gesichtspunkt der Zeitenwende ein staatliches Bekenntnis zur materiellen Sicherstellung der Sicherheit und Verteidigung in Deutschland und Europa.

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Einzelmaßnahmen

Die Frage zukünftiger Finanzierung gewinnt auch unter dem Gesichtspunkt des 100 Mrd. € Sondervermögens eine besondere Bedeutung. Wichtig ist die Bereitstellung auskömmlicher Finanzmittel im Verteidigungshaushalt über das 100 Mrd. € Sondervermögen hinaus. Nicht nur Beschaffung, sondern auch die langfristige Nutzung von Ausrüstung muss im Bundeshaushalt abgebildet sein. Sie bildet die Grundlage für industrielle Planungssicherheit und Vertrauen in die zu erwartenden Projekte, um sowohl finanziell als auch infrastrukturell die Vorbereitungen auf industrieller Seite zu beginnen.

Lieferstörungen, verursacht durch die Corona-Pandemie oder den russischen Überfall auf die Ukraine, haben die nationale Abhängigkeit von globalen Zulieferern aufgezeigt. Verlässliche Zulieferer sind jedoch wichtige Bestandteile der Rüstungsbeschaffung. Hier bedarf es gemeinsamer – staatlicher wie nichtstaatlicher – Anstrengungen, um Rohstoffmärkte und Lieferketten zu beobachten und bei Störungen Gegenmaßnahmen einzuleiten.

Zur langfristigen Sicherstellung der Auslastung industrieller Kapazitäten – und dies fördert andererseits den kontinuierlichen Aufwuchs an Material und Ausrüstung – ist es sinnvoll und erforderlich, soweit irgend möglich, Rahmenvereinbarungen mit langer Laufzeit zu vereinbaren, die möglichst bis zur Abdeckung des Gesamtbedarfs an einem Produkt ausgestaltet sein müssen. Jedoch sichert nicht nur Beschaffung industrielle Auslastung, auch die Nutzung sollte zukünftig auf Performance Based Logistics-Konzepte wo immer wirtschaftlich umsetzbar umgestellt werden. Gerade hier spielen die Unternehmen des wehrtechnischen Mittelstands eine besondere Rolle, da sie am ehesten in der Lage sein dürften, abseits der OEM flexibel auf Instandsetzungsbedarfe einzugehen.

Die Beschaffungsstrategie des Verteidigungsministeriums stellt die Rahmenbedingungen auf, wie zukünftig Beschaffung von Material und Ausrüstung der Streitkräfte erfolgen soll. Beschaffung von Material und Ausrüstung gemeinsam mit Partnern sowie die Beschaffung marktverfügbaren Materials auf Basis vertiefter Marktsichtung sind wesentliche Elemente der Strategie. Eine umfassende Kenntnis des Marktes ist hierfür unbedingt erforderlich. Sie kann unter an­derem durch Besuch von Messen und Ausstellungen sowie durch spezielle Markterkundungsmaßnahmen erreicht werden. Selbstverständlich sollte auch das direkte Gespräch mit der Industrie jenseits von laufenden Vergabeverfahren gesucht werden. Die ernsthafte Umsetzung der Beschaffungsstrategie unter gleichzeitiger Berücksichtigung nationaler Unternehmen bei international realisierten Systemen – zum Beispiel durch Realisierung und Zulieferung von Subsystemen oder auch durch Instandsetzungsrahmenverträge – dient der Sicherung nationaler industrieller Kompetenzen im Bereich des Mittelstands.

Entwicklung und Realisierung von Ausrüstung in internationaler Partnerschaft – so wie in der Strategie gefordert – hat für den wehrtechnischen Mittelstand auch weitere Implikationen. Einerseits ist die gemeinschaftliche Realisierung eine vertrauensbildende Maßnahme innerhalb europäischer Staaten, andererseits wird hiermit deutlich nach außen gezeigt, dass man sich einer gemeinschaftlichen Verantwortung im internationalen Rahmen unterziehen will. Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass nationale Schlüsselkompetenzen (nationale Schlüsseltechnologien) keine Berücksichtigung finden. Vielmehr muss im Rahmen der Zusammenarbeit eine Berücksichtigung nationaler Schlüsseltechnologien (die auch im Bereich des wehrtechnischen Mittelstands erzeugt und erhalten werden) erfolgen. Dies bedeutet, z.B. im Rahmen von Projekten des europäischen Verteidigungsfonds, eine finanzielle Unterstützung durch den Verteidigungsbereich; z.B. durch eine ausgewogene Co-Finanzierung.

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Aufgrund seiner Größe verfügt der wehrtechnische Mittelstand in der Regel nicht über die umfangreichen Ressourcen finanzieller und personeller Art, wie z.B. die sogenannten Systemhäuser. Daher ist es von besonderer Bedeutung, dass gerade im Bereich der Ausschreibungen und vertragsvorbereitenden Maßnahmen Prozesse und Aufgaben möglichst einfach und transparent gestaltet sind.

Art und Umfang vertraglicher Unterlagen – wie Leistungsbeschreibung, Musterverträge oder mitgeltende Unterlagen – sind den Möglichkeiten des Mittelstands entsprechend strukturiert, transparent und eindeutig zu verfassen. Dabei kommt es darauf an, gerade die Zahl der mitgeltenden Unterlagen so weit wie möglich zu reduzieren, um die Arbeiten im industrieseitigen Projektmanagement möglichst gering zu halten.

Gerade in wettbewerblichen Situationen sind Mindestanforderungen an die teilnehmenden industriellen Partner für die Feststellung der Eignung besonders wichtig. Sie müssen allerdings an die Rahmenbedingungen des wehrtechnischen Mittelstands angepasst sein. Hier sind vor allem die Forderungen an die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit der teilnehmenden Unternehmen von besonderer Bedeutung. Die „Hürde“ darf hier nicht zu hoch angelegt sein; sie muss den Möglichkeiten des Mittelstands entsprechend definiert werden.

Verursacht und befördert durch die Zeitenwende werden die Streitkräfte zukünftig weit mehr Material in Nutzung haben als in der Vergangenheit. Hinsichtlich der notwendigen Instandsetzungsmaßnahmen sind die Wege zur Heeresinstandsetzungslogistik etabliert und eine Vielzahl von Waffensystemen in die Betreuung durch die HIL migriert. Allerdings werden die verfügbaren amtsseitigen Ressourcen nicht durchgängig ausreichend sein. Hier kann und muss der wehrtechnische Mittelstand zukünftig vermehrt einbezogen werden. Insbesondere der Zugang zu Instandsetzungsleistungen, u.a. durch sogenannte Muster-/Probeinstandsetzungen, muss deutlich vereinfacht und ausgeweitet werden. Bereits in der Vergangenheit – vor der Zeitenwende – gab es Initiativen, den Mittelstand als Generalunternehmer für Rüstungsprojekte zu installieren. Oft reichten die verfügbaren Managementressourcen, die finanziellen Möglichkeiten, vielfach aber auch das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit mittelständischer Unternehmen nicht aus. Hier gilt es, in der Zukunft Barrieren auch gedanklicher Art zu beseitigen und den Mittelstand entsprechend seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten auch mit der Realisierungsverantwortung größerer Vorhaben zu betrauen.

Sollte dies nicht möglich sein, könnte eine verpflichtende Berücksichtigung des Mittelstands zum Beispiel über Unteraufträge ein Weg sein, um die Vorteile der Arbeitsweisen des Mittelstands auszunutzen.

Forschung und Technologie ist ein Pfeiler wehrtechnischer Kompetenz und Exzellenz. In den vergangenen Jahren ist allerdings der Trend zu beobachten, dass zunehmend Forschungs- und Technologiegelder genutzt werden, um die Vorhabenrealisierung voranzubringen. Dies birgt die Gefahr, dass national die Technologiebasis „eintrocknet“ und für zukünftige Vorhaben – auch im internationalen Wettbewerb oder internationaler Kooperation – nicht mehr zur Verfügung steht. Auch im Sinne des Know-how-Erhalts und -Aufbaus im Bereich des wehrtechnischen Mittelstands muss dem durch Bereitstellen ausreichender Mittel entgegengewirkt werden.

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Zusammenfassung

Bei aller Anerkennung der Leistungsfähigkeit der großen „Systemhäuser“ in der Realisierung von Material und Ausrüstung für die Streitkräfte bleibt als Resümee festzuhalten:

Der wehrtechnische Mittelstand mit seinen Eigenschaften der flexiblen und schnellen Reaktion auf technologische Anforderungen, seiner Innovationsfähigkeit und seiner Fähigkeit, sich den jeweiligen Bedarfen schnell anpassen zu können, ist gerade in den Zeiten der „Zeitenwende“ mit gravierend anwachsenden Materialbedarfen eine unverzichtbare Größe in der industriellen Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland.

 

Autor: Rainer Krug, Chefredakteur cpmFORUM

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