Die Arktis im Wandel – ein neuer Wirtschafts- und Operationsraum?!

Die Arktis liegt im Brennglas des globalen Klimawandels. Das Phänomen der Arctic Amplification beschleunigt die Erwärmung gerade dort um bis zu einem Faktor vier im Vergleich zum globalen Durchschnitt. Massiv wirkt sich die Meereisesschmelze auf die fragilen Ökosysteme der Arktis und gewachsene indigene Gemeinschaften aus, beeinflusst aber auch Meeresströmungen und die atmosphärische Zirkulation auf globaler Ebene. In diesem Beitrag für das cpmFORUM 01/24 betrachtet unser Gastautor Wolfgang Koch (Fraunhofer FKIE) die geoökonomischen und militärstrategischen Konsequenzen der Arctic Amplification.

Der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern in der Arktis. Foto: Alfred-Wegener-Institut / Stefan Hendricks
Das deutsche Forschungsschiff Polarstern ist in der Arktis und Antarktis unterwegs.
Foto: Alfred-Wegener-Institut / Stefan Hendricks

Die Erwärmung der Arktis macht nicht nur neue energetische und mineralische Ressourcen in dieser Region zugänglich, sondern öffnet auch der globalen Logistik neue Seerouten. Diese Handelswege verkürzen die auf den Weltmeeren zurückzulegenden Distanzen dramatisch und führen zu großen Einsparungen an Emissionen, Kosten und Zeit.

Geoökonomische Chancen

Zugleich umgehen sie Choke Points wie den Suez- oder Panamakanal sowie die durch Piraterie gefährdeten Meerengen am Golf von Aden oder der Straße von Malakka. Wie leicht von ihnen weltwirtschaftliche „Infarkte“ ausgehen können, hat die Vergangenheit gezeigt. Breitbandige transpolare Glasfaserkabel verkürzen überdies die „optische Distanz“ zwischen den Kontinenten. Denn um den Nordpol werden Europa, Asien und Amerika enge Nachbarn.

„Meine Einschätzung ist, dass wir auf dem Wege sind, auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit wissen muss, dass im Notfall auch militärischer Einsatz gefordert ist, um unsere Interessen zu wahren, z. B. freie Handelswege“, formulierte im Mai 2010 der damalige Bundespräsident Horst Köhler mit Weitblick – und musste deswegen zurücktreten.

Militärstrategische Risiken

Da verschiedene Länder Ansprüche auf arktische Ressourcen und Seewege erheben, entstehen widerstrebende territoriale und wirtschaftliche Interessen. Das globale Konfliktpotenzial wächst durch die Ambitionen aufstrebender geopolitischer Akteure in der multipolaren Welt.

Rapid Viking: Verlegeplan der Luftwaffenübung. Grafik: Bundeswehr / Kristin Schönbeck
Rapid Viking: Verlegeplan der Luftwaffenübung.
Grafik: Bundeswehr / Kristin Schönbeck

Russlands Revitalisierung und Ausweitung seiner arktischen Infrastruktur ist Teil seiner Militärstrategie. Sie umfasst die Modernisierung der russischen Arktisflotte mit neuen nuklear angetriebenen Eisbrechern und Militärbasen. Auch China, das sich seit 2018 als Near Artic State betrachtet, investiert massiv in arktische Projekte, Forschungsexpeditionen und wissenschaftliche Kooperation. Durch Polar Silk Routes will China die Arktis in sein Konzept der „Seidenstraßen“ integrieren und betrachtet diese Region als einen Pfeiler für Seehandel und Ressourcengewinnung.

Freier Zugang zur Arktis und Bedrohungsabwehr durch Abschreckung sind Pfeiler der neuen NATO-Strategie von Vilnius, die seit Juli 2023 in Kraft ist. Darin gewinnt vor allem das GIUK Gap, die virtuelle Linie zwischen Grönland, Island und dem Vereinigten Königreich (UK), geostrategische Bedeutung. Abschreckung im hohen Norden bedeutet zunächst ausgewogene Präsenz, um die Stabilität dieser Region zu fördern.

Deutschland in der Arktis

Diesem Leitgedanken entspricht die Luftwaffenübung „Rapid Viking 23“ im August 2023. Sie demonstrierte die Integrität und Souveränität der Bündnispartner in der Arktis. Trainiert wurde die Logistik einer schnellen Verlegung von sechs EUROFIGHTER aus Laage bei Rostock zur Keflavik Air Base auf Island. Maritime Logistik stand im Zentrum der NATO-Übung „Northern Viking im April 2022, bei der die Marine zur Überwachung des freien Seeverkehrs in multinationaler Kooperation beitrug.

Northern Viking: Die „SACHSEN” vor Island. Foto: Bundeswehr / Lukas Kersten
Northern Viking: Die „SACHSEN” vor Island.
Foto: Bundeswehr / Lukas Kersten

Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Arktis ein einzigartiges „Labor“, um die Auswirkungen des Klimawandels zu studieren. Deutsche Forschungseinrichtungen vertiefen das Verständnis der Arktis und leisten mit ihren Forschungsschiffen wesentliche Arbeit. Die Daten der deutschen Arktis-Expeditionen sind daher für die Erschließung arktischer Rohstoffe und Schifffahrtsrouten entscheidend.

Geologisches und ozeanografisches Wissen ermöglicht die Exploration potenzieller Lagerstätten und ihren umweltschonenden Abbau. Zugleich ermöglicht die Modellierung von Eisdrift und Meeresströmungen für Vessel Traffic Management die Entwicklung nachhaltiger Rohstoffgewinnung und arktische Schifffahrt. Nicht zu vergessen ist die Bedeutung präziser Seekarten, insbesondere die Bathymetrie, für das Verständnis arktischer Gewässer und der Routenplanung.

Wissenschaft und Schiffbau

Vom internationalen Ansehen der deutschen Polarforschung profitiert auch der deutsche Spezialschiffbau, der eine wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Erschließung der Arktis spielen kann. Die Expertise deutscher Werften beim Bau von Forschungseisbrechern ermöglicht neue Schiffskonzepte, die für die polaren Seerouten geeignet sind.

Aber auch der Bau, die Versorgung und Wartung arktischer Infrastrukturen für Rohstoffförderung und Transportschifffahrt benötigt Spezialschiffe. Zudem wird sich die Vorreiterrolle deutscher Werften bei der Entwicklung umweltfreundlicher Schifffahrtstechnologien gerade im hochsensiblen arktischen Habitat als Unique Selling Point erweisen. Wahrscheinlich sind Multi-Purpose-Schiffe erforderlich, die sich für Frachttransport, Forschung, Rettungsaktionen und Umweltunfallbekämpfung eignen.

Marinesoldaten übern in der Arktis, Foto:
Marinesoldaten übern in der Arktis.
Foto: Bundeswehr

Deutscher Spezialschiffbau kann maßgeschneiderte Lösungen für die Anforderungen der Arktis entwickeln, die nicht nur dabei helfen, geoökonomische Potenziale zu realisieren und militärische Risiken zu mindern, sondern diese Aktivitäten nachhaltig durchführen. Der „Nationale Masterplan Maritime Technologien“ nennt bereits als Zukunftsthemen: Spezialschiffbau, Produktionssysteme an Bord, Green Shipping; industrielle Unterwassertechnik sowie Eis- und Polartechnik.

Kalkulierbarkeit der Risiken

Die Nordwest-Passage hat bereits eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung erlangt; jedoch ist sie noch nicht in dem Maße erschlossen, wie es möglich sein könnte, vor allem vor dem Hintergrund, dass die schifffahrtstechnisch leichter zu bewältigende Nordostpassage für den „globalen Westen“ wohl auf absehbare Zeit unzugänglich bleibt. Dennoch wächst das Interesse aufgrund der logistischen Potenziale. Zudem entstehen neue Business Cases für Tourismus und Wirtschaftsentwicklung, die auch Umweltprobleme und negative Auswirkungen auf indigene Gemeinschaften mit sich bringen.

Neben technischen Fragen der Rohstoffexploration, des Spezialschiffbaus und der Infrastrukturentwicklung entlang der Nordwestpassage stellt sich die Aufgabe, auch die versicherungstechnischen Risiken zu bewerten. Bisher betrachten die internationalen Seeversicherungen die Rolle der Arktis für Welthandel und die Rohstoffgewinnung mit berechtigter Vorsicht.

ArktischeNordwestpassagedurchdennordkanadischenArchipelago. Grafik: BMBF-Projekt PASSAGES
ArktischeNordwestpassagedurchdennordkanadischenArchipelago.
Grafik: BMBF-Projekt PASSAGES

Insbesondere wegen wechselnder Eisverhältnisse und extremer Umweltbedingungen birgt die arktische Logistik schwer kalkulierbare Risiken. Hinzu kommt die noch fehlende Infrastruktur mit Häfen, Rettungseinrichtungen und maritimen Dienstleistungen. Ferner müssen potenzielle Umweltschäden und ungeklärte Rechtslagen und geopolitische Risiken bei der Berechnung von Seeversicherungsprämien eingezogen werden, ohne die das arktische Logistikpotenzial nicht zu erschließen ist.

Datenfusion: Risk Reduction

Forschungsprojekte wie „PASSAGES – Protection and Advanced Surveillance System for the Arctic“, gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Canadian Natural Sciences and Engineering Research Council, können dazu beitragen, die Risiken arktischer Logistik beherrschbar zu machen.

Untersucht wurde das Problem der sicheren Navigation durch verbleibendes Treibeis und Untiefen oder die Erleichterung von Such- und Rettungsaktionen. Zudem wurde Fischerei-, Schmuggel- und Umweltüberwachung betrachtet sowie der Küstenschutz. Entscheidend ist die künstlich intelligente „Fusion“ heterogener Daten unterschiedlichster Quellen auf bemannten und unbemannten Plattformen über und unter Wasser sowie im Weltraum mit Kontextinformation aus geografischen Informationssystemen, Wetter-, Eis-, Fischerei- und Umweltdatenbanken.

Die vier wesentlichen arktischen und transpolaren Seerouten. Foto: Asia Briefung, Statistica Reseach
Die vier wesentlichen arktischen und transpolaren Seerouten.
Grafik: Asia Briefung, Statistica Reseach

In einem besonderen Fokus stand multisensorielle Überwachung maritimer Korridore wie die Barrow Strait und Engstellen im arktischen Archipel, die passiert werden müssen, wie die Bellot Strait. Verdeckte Überwachung mit Passiv-Radar, etwa zur Erkennung illegaler Fischerei, wurde anhand simulierter Daten für die Frobisher Bay und Hudson Strait gezeigt.

Chancen und Herausforderungen für die maritime Logistik

Sicherheit wird im arktischen Wirtschafts- und Operationsraum zum Enabler. Multisensordatenfusion und effizientes Management unbemannter Plattformen sind der Schlüssel. Grundlegende Systemkonzepte liegen vor. Folgen müssen der Aufbau und Test von Experimentalsystemen. Künftige Plattformen wie die Eurodrohne können dabei eine Rolle spielen.

Die Betrachtung wirtschaftlicher Chancen und strategischer Risiken im „Brennglas des Klimawandels“ mit seiner fragilen Umwelt mündet in zwei Empfehlungen:

  1. Deutschland möge als Exportnation arktische Überwachungskompetenz als hoheitliche Aufgabe betrachten und systematisch aufbauen. Dazu gehören alle Domänen, einschließlich Space und Subsea mit entsprechenden Uncrewed Systems, neuer Sensorik einschließlich polarer Navigation, Modelle für schmelzendes Meereis etc.
  2. Als Bündnispartner möge Deutschland entschlossen zur nordatlantischen Sicherheit beitragen (Seewege, KRITIS, Ressourcenabbau). Dies erfordert möglicherweise ein erweitertes Fähigkeitsspektrum der Luftwaffe und Marine (Eisgängigkeit, Vessel Traffic Management/Decision Support, Verlegbarkeit, weiterentwickelte CONOPs etc.).

Wenn es zudem gelingt, deutsche Spitzenforschung über die Arktis und Informationstechnologien gemeinsam mit der maritimen Wirtschaft zu arktischer Spitzentechnologie zu transferieren, wird Deutschland an der Erschließung energetischer und mineralischer Rohstoffe in der Arktis partizipieren und von den neuen Seewegen profitieren können. Alle reden nur vom Klimawandel – Gestalten wir ihn zum Positiven!

Autor: Prof. Dr. Wolfgang Koch, 
Fraunhofer FKIE

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