Die aktuelle Bedrohung durch hyperschallschnelle Flugkörper verändert die Anforderungen an die Landes- und Bündnisverteidigung fundamental. Diehl Defence ist seit 20 Jahren an Hyperschallstudien beteiligt und arbeitet seit mehr als fünf Jahren an der Analyse hypersonischer Bedrohungen. Das Ergebnis: Neben Lösungen zur konventionellen bodengebundenen Luftverteidigung bietet der Hersteller nun im modularen Systemansatz der Produktfamilie IRIS-T auch einen Flugkörper zur Abwehr von hypersonischen Bedrohungen an: IRIS-T HYDEF (Hypersonic Defence).
Hyperschallschnelle Flugkörper erreichen eine Geschwindigkeit von mehr als dem fünffachen der Schallgeschwindigkeit, d.h. mehr als 6.000 km/h. China besitzt mit der „DF-ZF“ bereits Gefechtsköpfe für ballistische Raketen, welche als hypersonische Gleitflugkörper (Hypersonic Glide Vehicles, HGV) ausgeführt sind. Russland demonstrierte seine neue HGV-Waffe mit dem Namen „Avangard“ bereits 2018 medienwirksam. Mit der SS-26 (ISKAN- DER)-Rakete und ihrem luftgestützten Derivat „KINSCHAL“ existieren bereits reale hypersonische Bedrohungen, die als Hyperschallmarschflugkörper (Hypersonic Cruise Missiles, HCM) klassifiziert werden. Am 19. März 2022 gab das russische Verteidigungsministerium den erfolgreichen Einsatz des KINSCHAL-Raketensystems auf ein unterirdisches ukrainisches Munitionsdepot bekannt. Hierdurch hat eine Abwehrmöglichkeit für hyperschallschnelle Flugkörper noch einmal an Relevanz zugenommen.
Weiterentwicklung des modularen Systemansatzes der Produktfamilie IRIS-T
Als konsequente Weiterentwicklung des modularen Systemansatzes der Produktfamilie IRIS-T bietet Diehl Defence neben der konventionellen bodengebundenen Luftverteidigung einen Flugkörper im System zur Abwehr von hypersonischen Bedrohungen an. Basierend auf dem bereits erfolgreich im Einsatz befindlichen Ground Based Air Defence System IRIS-T SLM, wird auf das bestehende Know-how vor allem im Bereich Feuerleitsensorik und Flugkörper-Lenkteil-Technologie aufgebaut und um neue Komponenten ergänzt.
Diehl Defence ist seit 20 Jahren an Hyperschallstudien beteiligt und arbeitet seit mehr als fünf Jahren an der Analyse hypersonischer Bedrohungen. Seitdem diese Bedrohungen konkreter geworden sind, ist Diehl Defence auch an Vorhaben zu Hyperschall-Grundsatztechnologien, experimentellen Hyperschalltests sowie Studien im Bereich der Hyperschallabwehr beteiligt. Hierzu arbeitet Diehl Defence in Kooperationen mit nationaler Industrie und Forschungsinstituten.
Es wurden Technologien und Fähigkeiten identifiziert, die sich als entscheidend für eine effektive Abwehr hypersonischer Bedrohungen herausgestellt haben. Dazu gehören u.a. die Fähigkeit der frühzeitigen Aufklärung und der kontinuierlichen, zeitverzugslos präzisen Bahnverfolgung von Hyperschallflugkörpern sowie die Erweiterung der aktuellen Diehl Defence Flugkörpersysteme um eine hochagile Oberstufe mit einer Direkttrefferfähigkeit gegen hypersonische Bedrohungen, wie beispielsweise HGVs.
Das System of Systems (SoS) Design
Bei dem Systemdesign wird auf verfügbare und bereits bewährte Komponenten zurückgegriffen, um das System in einem angemessenen Zeit- und Kostenrahmen zur Verfügung stellen zu können. In Betracht gezogen werden dabei insbesondere die bekannten NATO Ballistic Missile Defence (BMD)-Komponenten. Diese müssen für das neue System HYDEF sinnvoll erweitert und – wenn nötig – den neuen Anforderungen entsprechend überarbeitet werden. Hier kommen Diehl Defence die Erfahrungen in allen Bereichen eines Luftverteidigungssystems – von Flugkörpern über Sensoren zu Starteinrichtung (Launcher) und Tactical Operation Center (TOC) – aus den IRIS-T-basierten Ground Based Air Defence Systemen (SLS, SLM, SLX) zugute.
IRIS-T Hypersonic Defence mit Launch-On-Remote
Das in diesem Artikel gezeigte System erweitert unter der Bezeichnung IRIS-T HYDEF (IRIS-T Hypersonic Defence) schlüssig die IRIS-T-Produktfamilie. Da die Reichweite gegenüber den bestehenden Systemen wesentlich höher sein wird, wird für eine erfolgreiche Bekämpfung hypersonischer Bedrohungen eine ergänzende, weltraumbasierte Aufklärungs- und Tracking-Sensorik benötigt.
Aufgrund der geringen Reichweite der plattformeigenen Sensorik wird beim IRIS-T HYDEF-Abschuss ein sogenannter „Launch-On-Remote“ durchgeführt. Hierbei wird der Abwehrflugkörper basierend auf Track-Daten des Ziels einer anderen luft-, see-, land- oder weltraumgestützten Plattform gestartet. Hierdurch kann der Bekämpfungsablauf bereits initiiert werden, wenn sich die hypersonische Bedrohung noch außerhalb der Reichweite der plattformeigenen Tracking-Sensorik befindet.
Außerhalb des eigenen Radarhorizontes Bekämpfung mit Engage-On-Remote
Für eine Bekämpfung außerhalb des eigenen Radarhorizonts ist eine Bekämpfung mit „Engage-On-Remote“ erforderlich. Bei diesem Bekämpfungsablauf führt eine dritte Plattform den Abwehrflugkörper bis zum Auffassen der eigenen Feuerleit-Sensorik. Dies stellt enorme Anforderungen an die Zuverlässigkeit, Latenz und die Präzision der Track-Daten. Zudem ergeben sich hierdurch höhere Anforderungen an das Cybersecurity-Konzept des gesamten Hypersonic Missile Defence (HyMD) Systems.
Der Einsatz des Systems kann dabei sowohl boden-, see- als auch luftgestützt erfolgen. Um ballistische und hypersonische Bedrohungen bereits frühzeitig in endo-atmosphärischen Höhen oberhalb von 20 km zu bekämpfen, ist das System als zweistufiger Lenkflugkörper ausgelegt. Dieser ist für den boden- und schiffsgestützten Einsatz durch zusätzliche Booster erweiterbar. Der Abgang des Abfangflugkörpers erfolgt in diesem Fall mittels einer Booster-Stufe, wodurch bereits Flughöhe gewonnen und Geschwindigkeit aufgebaut wird. Hinsichtlich der Reduzierung von Entwicklungskosten und -zeit ist vorgesehen, auf eine bereits verfügbare Booster-Lösung aufzubauen.
Flugkörperkonzept mit Oberstufe
Aus den oben genannten Anforderungsanalysen ist das Flugkörperkonzept IRIS-T HYDEF mit Oberstufe entstanden, in welchem der modulare Systemansatz der IRIS-T-Familie von Diehl Defence fortgeführt wird. Dabei wird auch eine flexible Anpassung an die verschiedenen Unterstufen des IRIS-T HYDEF-Flugkörpers ermöglicht, um im Antriebsbereich offen für Kooperationen zu sein.
Die Unterstufen dienen dazu, die Oberstufe in die Flugbahn des gegnerischen hypersonischen Flugkörpers zu befördern, damit diese dort die Bedrohung punktgenau treffen kann. Durch den Einsatz modernster Zielsuchkopf-Sensoriken, Lenk- und Steuerverfahren werden die hohe Agilität und Treffergenauigkeit der Oberstufe erzielt. Die eingesetzte Flugkörper-Sensorik arbeitet dabei in unterschiedlichen Spektralbereichen und kann Ziele in verschiedenen atmosphärischen Bedingungen, Geschwindigkeits- und Entfernungsbereichen zuverlässig detektieren.
Zielsuchkopf
Für die Zielerfassung wird eine Kombination aus Radar- und Multispektral-Infrarot-Suchkopftechnologien verwendet. Bei der Suchkopfkomponente handelt es sich um eine Neuentwicklung, welche auf die endo-atmosphärischen Bedingungen oberhalb 20 km Flughöhe angepasst ist. Dabei fließen jahrzehntelange Erfahrungen aus dem Bereich der Suchkopfentwicklung ein.
Querschubsystem
Mehrere Schubdüsen realisieren die Bahn- und Lageregelung in der Annährungsphase (Homing) und während des Abfangens (Endgame). Dabei sind mehrere Schubimpulse möglich, sodass auf mehrfache Ausweichmanöver des abzufangenden Ziels reagiert werden kann.
Wirkprinzip
Das Zusammenspiel von Sucherkonzept und Bahn- und Lageregelungsmodul ermöglicht es, den Abfangflugkörper auf Kollisionskurs mit dem Ziel zu manövrieren, sodass dieses in Form eines Direkttreffers bekämpft wird. Die dabei freigesetzte kinetische Energie führt zur Zerstörung des Ziels. Ein zusätzlich vorgesehener Wirkungsverstärker stellt dabei auch die Zerstörung eines gegnerischen ABC-Gefechtskopfs sicher. Damit können auch konventionelle Ziele effektiv bekämpft werden.
Die extremen Relativgeschwindigkeiten zwischen dem IRIS-T HYDEF-Flugkörper und dem abzufangenden Flugkörper verkürzen die verfügbaren Reaktionszeiten so sehr, dass menschliche Beteiligung im Abfangvorgang nur eingeschränkt möglich ist. Der Einsatz von Methoden und Verfahren Künstlicher Intelligenz (KI) in den Elementen des HyMD System of Systems, im Feuerleitprozess und im Lenkflugkörper, wird eine ausreichend hohe Zuverlässigkeit im Bekämpfungsablauf hypersonischer Bedrohungen ermöglichen. Insbesondere die Feuerleitung wird durch eine KI-Unterstützung massiv beschleunigt und ermöglicht schnellere und sicherere Entscheidungen eines Operateurs.
Diehl Defence befasst sich seit vielen Jahren sowohl mit Methoden der Künstlichen Intelligenz als auch des Maschinellen Lernens (ML) und konnte bereits für einen ähnlich herausfordernden Einsatz in der bodengestützten Drohnenabwehr den Prozess der Detektion, Feuerleitung und Bekämpfung eines derartigen gegnerischen Ziels mit KI- und ML-Unterstützung vollständig abdecken. Ziel des KI-Einsatzes in der Hyperschallabwehr ist es, stets eine zeitkritische Bekämpfung in einem komplexen Szenario zu ermöglichen, dabei aber den Operateur ständig in der Entscheidungsgewalt zu halten.
Nächste Schritte
Das IRIS-T-HYDEF-Flugkörperkonzept soll gemeinsam mit europäischen Partnern im Rahmen des EDF Vorhabens EU HYDEF weiter nach vorne getrieben werden, um in dem gemeinsamen Konsortium gegen Hyperschallbedrohungen eine europäische Abwehr aufzubauen. Die Partner stammen hierbei nicht nur aus der wehrtechnischen Industrie: die Luft- und Raumfahrtbranche ergänzt die vorhandenen Kompetenzen optimal für diese in Europa neue Form von Flugkörpersystemen. Das dargestellte Konzept zeigt, wie bereits bestehende Systeme mit entsprechendem Know-how weiterentwickelt werden und so Länder vor immer fortschrittlicheren und technologischen Waffensystemen schützen können.
Autor: Diehl Defence, für cpmFORUM 3/2022