Phage X – Biotechnologie für das Gefechtsfeld

Erster Platz für Phage X – Der European Defense Tech Hackathon (EDTH) in Warschau, der vom 11. bis 13. April 2025 stattfand, war mehr als nur eine Innovationsveranstaltung: Er war ein Signal an Europa. Ein Signal, dass Sicherheitspolitik, Technologieentwicklung und medizinische Notwendigkeit in einem neuen, integrativen Rahmen gedacht werden müssen. Organisiert wurde der Hackathon von der European Defense Tech Initiative in Partnerschaft mit dem Polish Development Fund, dem Polnischen Ministerium für nationale Verteidigung, Innovators Hub, der Ukrainian Startup Fund, Future4Ukraine, GITEX Impact, Casimir Pulaski Foundation, Startup Hub Poland, Polska Zbrojna und vielen weiteren Unterstützern aus dem Verteidigungs- und Innovationssektor.

Phage X Initiatorin Dr. Joanna Wiecek im Gespräch mit einem EDTH-Mentor (04:2025)
Phage X Initiatorin Dr. Joanna Wiecek im Gespräch mit einem EDTH-Mentor.
Foto: CPM / Connor Rehn

Mehr als 200 Teilnehmende aus 20 Nationen – darunter Informatiker, Biologen, Ingenieure, Unternehmensgründer und staatliche Entscheider – entwickelten innerhalb von 26 Stunden marktfähige Lösungen für Herausforderungen, die sich derzeit in der Ukraine, aber auch zukünftig auf jedem europäischen Gefechtsfeld stellen könnten.

Der Wettbewerb fand unter realitätsnahen Bedingungen statt und wurde begleitet von Mentorenteams aus der NATO, der Industrie und ukrainischen NGOs. Neben dem inhaltlichen Wettbewerb bot der Hackathon ein starkes Netzwerk aus Entscheidungsträgern und Investoren, die bereit sind, Lösungen auch über die Veranstaltung hinaus zu fördern. Die Siegerideen haben das Potenzial, in Pilotprojekte überführt und im realen Einsatz getestet zu werden – ein elementarer Schritt für jede sicherheitsrelevante Technologie.

Den ersten Platz belegte das Projekt Phage X. Dahinter steckt eine Gruppe von sieben Spezialisten aus der Biotechnologie, Datenwissenschaft, Softwareentwicklung und Venture-Finanzierung, die eine Lösung für eines der brisantesten, aber am wenigsten sichtbaren Probleme moderner Kriegführung entwickelt haben: die antibiotikaresistente Infektion. Das Besondere: Das Team lernte sich erst auf dem Hackathon kennen – und bewies in nur zwei Tagen, wie leistungsfähig interdisziplinäre, multinationale Kollaboration sein kann, wenn der Zweck klar ist und der Zeitdruck real.

Die unterschätzte Bedrohung: Antibiotikaresistenz im militärischen Kontext

In einer Zeit, in der Hyperschallwaffen, Drohnen und Künstliche Intelligenz den Diskurs rund um militärische Bedrohungen dominieren, wirkt es fast aus der Zeit gefallen, über Bakterien zu sprechen. Und doch, wie Dr. Joanna Więcek, Mikrobiologin und Initiatorin von Phage X, betont: „Bis zu 60 Prozent aller Kriegsverletzungen sprechen heute nicht mehr auf herkömmliche Antibiotika an. Das bedeutet: Ein einfacher Schnitt kann wieder tödlich werden.“

Die sogenannten multiresistenten Keime sind längst nicht mehr nur ein Problem zivilgesellschaftlicher Krankenhäuser, sondern ein realer taktischer Risikofaktor. Denn Soldaten, die in unsauberen oder improvisierten Feldbedingungen verletzt werden, können sich Bakterien einfangen, die gegen alle gängigen Medikamente resistent sind.

Final Pitch des Phage X-Teams auf dem European Defense Tech Hackathon in Warschau (04:2025)
Final Pitch des Phage X-Teams auf dem European Defense Tech Hackathon in Warschau.
Foto: CPM / Connor Rehn

Bereits der britische O’Neill-Report von 2016 prognostiziert für 2050 bis zu 10 Millionen Todesfälle pro Jahr infolge von AMR (Antimicrobial Resistance). Diese Zahl übersteigt die Opferzahlen der meisten bekannten Krankheitsbilder und hat das Potenzial, auch militärische Einsatzplanungen grundlegend zu verändern.

Zudem verursacht AMR nicht nur menschliches Leid, sondern auch wirtschaftliche Belastungen: Die geschätzten globalen Kosten belaufen sich laut Studie auf rund 100 Billionen US-Dollar bis zur Jahrhundertmitte.

Das Konzept Phage X: Hightech trifft Biologie

Die technische Lösung von Phage X basiert auf einer Renaissance der Phagentherapie, kombiniert mit den neuesten Entwicklungen in KI-gestützter Diagnostik. Bakteriophagen – Viren, die ausschließlich Bakterien angreifen – werden seit Jahrzehnten in der Grundlagenforschung untersucht, fanden aber bislang kaum Eingang in die medizinische Breitenanwendung.

Gerade im westlichen Teil Europas und in Nordamerika wurde diese Therapieform lange vernachlässigt – zu Unrecht, wie sich nun zeigt. Was Phage X anders macht, ist die Kombination aus portabler DNA-Sequenzierung, cloudbasierter Analyse und einem speziell trainierten Algorithmus für die schnelle Zuordnung von Phagen zu bakteriellen Erregern. Der Ablauf im militärischen Einsatz sieht wie folgt aus:

  1. Der verwundete Soldat wird in ein Feldlazarett (Level 2) eingeliefert.
  2. Eine Wund- oder Gewebeprobe wird entnommen.
  3. Mittels MinION-Sequenzierer wird das bakterielle Erbgut extrahiert und innerhalb von sechs Stunden sequenziert.
  4. Die DNA-Daten werden in die Cloud hochgeladen und durchlaufen den KI-Algorithmus von Phage X.
  5. Innerhalb von 15 Minuten wird entweder ein fertiger Phagencocktail empfohlen oder eine individuell neue Kombination zur Herstellung vorgeschlagen.
Das Konzept Phage X: Hightech trifft Biologie
Das Konzept Phage X: Hightech trifft Biologie

Diese Geschwindigkeit ist im militärischen Umfeld ein Gamechanger: Nicht nur Leben können gerettet werden, sondern auch lange Liegezeiten, Folgeschäden und Sekundärinfektionen verhindert werden. Die Therapien sind dabei biologisch hochspezifisch, greifen nur das Zielbakterium an und lassen gesunde Zellen unversehrt – im Gegensatz zu Breitbandantibiotika.

Das Team: Europas multidisziplinäre Antwort auf AMR

Phage X entstand überraschenderweise nicht in einem jahrelangen Forschungsprojekt, sondern innerhalb von zwei Tagen im Rahmen des Hackathons. Das Team, das sich dort formierte, ist ein Musterbeispiel für gelebte Interdisziplinarität:

  • Dr. Joanna Więcek (PL/UK): Mikrobiologin, Unternehmerin, Expertin für Mikrobiome und klinische Studien
  • Dr. Marcin Mider (PL): Spezialist für maschinelles Lernen und Data Science
  • Prof. Samuel Livingstone (UK): Associate Professor am University College London, Schwerpunkt Machine Learning
  • Bartosz Kosewski (PL): Frontend-Entwickler mit Fokus auf benutzerzentrierte KI-Anwendungen
  • Alican Kapusuz (TR): Software-Ingenieur mit Erfahrung in digitaler Diagnostik
  • Tetiana Dymytrashchuk (UA/DE): Venture Capital-Analystin, verantwortlich für Business-Modell und Finanzierungsstrategie

Więcek beschreibt die Zusammenarbeit als „ungewöhnlich harmonisch“ für ein Ad-hoc-Team. Die Kombination aus wissenschaftlicher Tiefe, technischer Kompetenz und strategischem Denken habe die Entwicklung der Plattform überhaupt erst möglich gemacht. Besonders wichtig sei auch die multinationale Zusammensetzung des Teams gewesen, das polnische, britische, ukrainische, deutsche und türkische Perspektiven vereinte.

Kampfcocktail: Phagen töten Bakterien
Kampfcocktail: Phagen töten Bakterien.

Vom Hackathon in die Praxis: Was Phage X jetzt braucht

Mit dem Sieg in Warschau hat Phage X Aufmerksamkeit und Zuspruch von Expertengremien und Mentoren erhalten – darunter Mediziner mit NATO-Erfahrung und Vertreter aus militärischer Beschaffung. Doch aus dem Prototyp soll ein Produkt werden. Und das geht nicht ohne Unterstützung. Więcek erklärt klar, was nötig ist: „Wir brauchen Kapital, aber auch strategische Partner mit militärischem Hintergrund. Menschen, die nicht nur investieren, sondern mitdenken und mitlenken.“

Gesucht werden gezielt Angel-Investoren oder Venture-Fonds mit sicherheitspolitischer Erfahrung. Zugleich prüft das Team, inwieweit eine Integration in die bestehende Firma von Więcek – GutSee Health – erfolgen kann. Diese ist bereits auf mikrobiombasierte Therapien spezialisiert und verfügt über regulatorische Expertise.

Denkbar ist aber auch ein dedizierter Spin-Off mit Fokus auf den Dual-Use-Sektor. Diese Schritte sind entscheidend, um Phage X in die nächste Phase zu überführen – insbesondere die Validierung unter realen Einsatzbedingungen, wie sie im militärischen Bereich erforderlich ist. Nur durch solche gezielten Partnerschaften kann das System sowohl technisch als auch logistisch weiterentwickelt und für die spätere Skalierung vorbereitet werden.

Außerdem laufen erste Gespräche mit Feldlazaretten, Innovationszentren der Streitkräfte und zivilen Kliniken in NATO-Staaten. Wichtig sei vor allem ein Pilotprojekt in einem realen Einsatzszenario, um Wirksamkeit, Logistik und Produktionszyklen zu testen. Die Bereitschaft, sich für eine frühe Feldvalidierung zur Verfügung zu stellen, sei bereits bei mehreren medizinischen Akteuren signalisiert worden.

Die Organisatoren des Hackathons sehen in Projekten wie Phage X nicht nur technologische Exzellenz, sondern auch ein Signal an politische Entscheider. Dr. Benjamin Wolba, Mitgründer des European Defense Tech Hubs und Mitorganisator des EDTH, betont:

„Es ist schön zu sehen, dass die Teams bei unseren Hackathons an vielen relevanten Sicherheitsproblemen arbeiten – nicht nur an Drohnen, sondern auch daran, wie Biotech Leben retten kann. Dadurch werden Ansätze vorangebracht, die bei vielen anderen Programmen durch das Raster fallen. Wichtig ist dann, dass die Lösungen unter realen Einsatzbedingungen getestet werden und schließlich jemand die Lösungen kauft.“

Phage X Initiatorin Dr. Joanna Wiecek im Gespräch mit einem EDTH-Mentor (04:2025)
Phage X Initiatorin Dr. Joanna Wiecek im Gespräch mit einem EDTH-Mentor.
Foto: CPM / Connor Rehn

Dieser Impuls ist zentral: Innovation darf nicht im Prototypenstadium verharren. Um Phage X zu einer einsatzfähigen Lösung zu machen, braucht es gezielte Pilotierungen – etwa in militärischen oder zivilen Einrichtungen, die unter einsatznahen Bedingungen arbeiten. Ebenso entscheidend ist die Einbindung in strategische Beschaffungsprozesse, um die Brücke zwischen Entwicklung, Validierung und Anwendung zu schlagen – national wie international.

Biotechnologie als sicherheitspolitische Investition

Das Beispiel Phage X zeigt exemplarisch, wie medizinische Innovation als Teil von Sicherheitsvorsorge gedacht werden kann. Biotechnologie ist längst nicht mehr nur zivile Forschung – sie ist Teil moderner Verteidigung. Więcek bringt es auf den Punkt: „Wenn wir in militärischen Kontexten validieren, beschleunigen wir die Zulassung für den zivilen Markt. Das ist nicht nur effizient, sondern rettet auch schneller Leben.“

Für politische Entscheider, Förderinstitutionen und Beschaffer heißt das: Wer heute in Projekte wie Phage X investiert, verschafft Europa einen strategischen Vorsprung – medizinisch, technologisch und operativ. Hinzu kommt: Technologien wie Phage X können nicht nur bestehende Sicherheitsarchitekturen ergänzen, sondern auch dazu beitragen, Europa krisenresilienter zu machen – gegenüber biologischen Bedrohungen, Pandemien und systemischer Überlastung der Gesundheitsinfrastruktur.

Die Bedeutung einer schnellen, mobilen Analysefähigkeit unter Gefechtsbedingungen wird übrigens auch durch die aktuellen Entwicklungen im Bereich der ABC-Abwehr der Bundeswehr unterstrichen. So berichtet das ABC-Abwehrkommando der Bundeswehr von konkreten Fortschritten im Bereich mobiler Labore, die eine flexible Erkennung biologischer oder chemischer Gefahren ermöglichen – ein Ansatz, der sich mit dem Konzept von Phage X deckt.

Beide Systeme zeigen: Wenn Diagnose- und Behandlungskapazitäten vor Ort zur Verfügung stehen, lassen sich kritische Zeitfenster nutzen, um Leben zu retten. Der Schulterschluss zwischen biotechnologischen Innovationen und militärischer Aufklärung ist deshalb kein Zufall, sondern ein Gebot der sicherheitspolitischen Realität. Zum Artikel über das ABC-Abwehrkommando bei CPM Defence Network

Sicherheit braucht Biotechnologie

Der European Defense Tech Hackathon in Warschau hat gezeigt, welches Innovationspotenzial in gezielten, sicherheitsrelevanten Biotech-Entwicklungen liegt. Phage X ist ein Prototyp für das, was Dual-Use im besten Sinne bedeuten kann: Eine Technologie, die auf dem Gefechtsfeld Leben rettet und in Friedenszeiten das Gesundheitswesen transformiert.

Für Europa bedeutet das: Wer in Biotechnologie investiert, investiert in Resilienz. Wer Teams wie Phage X unterstützt, stärkt nicht nur die Sicherheitspolitik, sondern auch die medizinische Innovationskraft des Kontinents.

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