Visualisierung und Virtualisierung komplexer Systeme in der Wehrtechnik

Wehrtechnische Produkte werden technologisch und operativ zunehmend komplexer, dezentraler und kostenintensiver. Prozesse werden langwieriger, die Wartung aufwändiger und die Ausbildung der Techniker umfangreicher. Nicht nur ist geeignetes Personal rar, traditionelle Arbeitsweisen werden zudem durch die Nutzung von innovativen Technologien transformiert. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, erkennen Beschaffer und Lieferanten die Vorteile der virtuellen Verknüpfung von physischen Produkten und digitalen Informationen.

Beispiel für Virtualisierung und Visualisierung: oben mittig – Bild der Problemsituation; links mittig – Experte zugeschaltet aus anderem Standort; rechts mittig – Dokument/Handbuch zur Anzeige für den Bediener; unten mittig (Pfeile) – spatiale Markierungen zur Anleitung des Bedieners.
Beispiel für Virtualisierung und Visualisierung: oben mittig – Bild der Problemsituation; links mittig – Experte zugeschaltet aus anderem Standort; rechts mittig – Dokument/Handbuch zur Anzeige für den Bediener; unten mittig (Pfeile) – spatiale Markierungen zur Anleitung des Bedieners.
Bild: Accenture

Die Sicherheits- und Verteidigungsbranche muss bei Visualisierung und Virtualisierung nicht bei null beginnen. Anders als oft angenommen, ist für die Implementierung kein vollumfänglich „digitaler Kern“ als Ausgangspunkt erforderlich. Vielmehr können einzelne Innovationen singulär und autonom eingeführt werden, solange diese einer übergeordneten Strategie aus einem Guss folgen.

Bei der Visualisierung und Virtualisierung von Informationen kann die wehrtechnische Branche zudem von anderen Industrien lernen. Erfolgreiche Anwendungen in der Notfallmedizin, beim Rückbau von Kernkraftwerken und in diversen industriellen Wartungsprozessen zeigen den Reifegrad und die Skalierbarkeit dieser Lösungen. Überführt werden können diese Beispiele im Telenotarzt Role 2, in der virtuellen Planung von Lazarettverlegung oder bei der Instandhaltung von Starr- und Drehflüglern.

Im Folgenden werden drei konkrete Anwendungsfälle innovativer Technologien dargestellt. Lösungen wie „Connected Worker“, „Remote Assist“ und „Talk to your Documents“ begegnen den eingangs geschilderten Herausforderungen mit Hilfe von Visualisierung und Virtualisierung und dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI).

Komplexe Aufgaben informationsbasiert lösen: der Connected Worker

Einer der großen Vorteile des Einsatzes moderner Informationstechnologien ist es, die Fachkraft in die Lage zu vesetzen, komplexe Aufgaben schnell und zuverlässig durchzuführen. In diesem Sinne befähigt der Connected WorkerMitarbeiter, ihre Aufgaben auf der Grundlage von Augmented Reality-Technologie (AR) informationsbasiert auszuführen. Dabei werden dem vernetzten Arbeiter visuelle Informationen in das Sichtfeld eingeblendet. Grundlage hierfür sind vernetzte Systeme, welche die relevanten Daten des digitalen Produkt-Zwillings zu CAD, Produktion, Zustandskonfiguration oder Wartung zusammenführen. Hierdurch werden dem vernetzten Mitarbeiter Funktionen wie Schritt-für-Schritt-Anweisungen, maßgeschneiderte Dashboards, Bauteildokumentation sowie Compliance- und Sicherheitsfunktionen bereitgestellt. Zeitgleich kann die AR-Technologie genutzt werden, um Echtzeit-Daten direkt am Einsatzort bereitzustellen. Dies umfasst sowohl Live-Daten von Maschinen und Sensoren als auch interaktive Arbeitsanweisungen.

Durch die direkte Verfügbarkeit dieser Informationen können fundiertere Entscheidungen getroffen und Prozesse optimiert werden. Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von digitalen Checklisten zur Prozesseinhaltung bei der Instandhaltung und Wartung von Starrflüglern, die in Kombination mit visuellen Hinweisen die Qualität und Sicherheit verbessern und die Einsatzbereitschaft erhöhen.

Remote Assist: AR-unterstützte Bereitstellung von Expertenwissen

Mithilfe von AR-Brillen oder Tablets können Techniker vor Ort in Echtzeit auf Anweisungen und visuelle Hilfestellungen zurückgreifen. Experten aus unterschiedlichen Disziplinen können in einer gemeinsamen virtuellen Umgebung zusammenarbeiten, um komplexe Probleme zu lösen. Dies ist besonders im wehrtechnischen Bereich von großer Bedeutung, in dem schnelle und flexible Reaktionen auf Ereignisse erforderlich sind. Vor Ort im Einsatz oder im Manöver nicht verfügbares Know-How kann für dezidierte Fragestellungen wie komplexe Reparaturen oder Auflösung von Non-Conformities von Fluggerät im Einsatz genutzt werden.

Hierzu wird ein Experte in das digitale Arbeitsfeld des Technikers aufgeschaltet. Mittels Kamera wird das Livebild in Echtzeit zum remote arbeitenden Experten übertragen, der wiederum zusätzliche Informationen über Wartungshandbücher oder Dokumentationen ins Blickfeld des Technikers einblenden kann. Gemeinsam kann eine schnelle und effiziente Fehlerbehebung stattfinden. Dies reduziert Ausfallzeiten und Wartungskosten, die Produktpflege wird vereinfacht. Im Einsatz bedeutet dies: die Verfügbarkeit der Systeme steigt

Die Virtualisierung von Prozessen fördert zudem die interdisziplinäre Zusammenarbeit und den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Fachbereichen. Dies steigert nicht nur die Innovationsfähigkeit, sondern reduziert die erforderlichen Abstimmungszeiten, steigert die Prozesseinhaltung, verbessert die Sicherheit, ermöglicht eine freihändige Interaktion und führt zu einer effizienteren Nutzung von Ressourcen.
"Talk-to-your-documents" Beispiel anhand eines Flugzeugsitzes.
"Talk-to-your-documents" Beispiel anhand eines Flugzeugsitzes.
Bild: Accenture
Interaktion mit textbasierten Informationen: Talk-to-your-Documents

In vielen Branchen, ebenso wie in der Sicherheits- und Verteidigungsbranche, erzeugt die zunehmende Digitalisierung eine Flut an Informationen, Prozessanweisungen, Wartungsinstruktionen und begleitenden Dokumenten. “Talk-to-your-documents“ ist eine Möglichkeit, die Interaktion mit großen Mengen an textbasierten Informationen neu zu definieren und leichter zugänglich zu machen: mittels natürlicher Sprache.

Die Anwendung basiert auf dem Einsatz von generativer KI. Dazu wird ein Large Language Model (LLM) auf Grundlage eines zuvor definierten Repository, bestehend aus einer großen Menge an Informationen, maschinell angelernt. Diese Informationen können Produktspezifikationen, Wartungsdokumente, Ausschreibungsunterlagen oder Datenbanken sein; je nach Einsatzzweck ist auch die Integration eingestufter Informationen möglich. Dabei können on-premise- oder cloudbasierte Ansätze zum Einsatz kommen – die Datenhoheit verbleibt zu jedem Zeitpunkt beim Auftraggeber.

In der Praxis bedeutet dies: anstatt langwierig in unterschiedlichen Dokumenten nach Informationen zu einem spezifischen Problem zu suchen, fragt der Techniker z.B. die generative KI: „Das Lager der Stellmotoren am Rotorkopfder NH90 hat Spiel. Wie kann ich die Materialerhaltungsstufe feststellen?“ oder: „Ist Materialerhaltungsstufe X im Rahmen der Materialerhaltung oder muss es ausgetauscht werden?“ Trifft ein Techniker auf eine neue Störung, die bisher nicht aufgetaucht ist, kann er z.B. fragen: „Gab es in der Vergangenheit Meldungen über Korrosion am Bodenblech?“

Die generative KI gibt als Antwort mögliche Lösungsansätze aus. Dabei können dokumentierte Störungen aus der Vergangenheit mit ähnlich gelagerten Problemstellungen zur Lösungsfindung beitragen. Der Techniker hat auf diesem Wege stets die aktuellsten und relevantesten Informationen zur Hand, um seine Aufgaben erfolgreich zu lösen.

Gleichzeitig dient der Einsatz von generativer KI als zusätzlicher Hebel, um Expertenwissen dezentral verfügbar zu bündeln und den Wissenstransfer zwischen den Standorten zu gewährleisten. Dies führt zu einer Reduktion von menschlichen Fehlern, stärkt die Einhaltung von Sicherheitsstandards, steigert (zeitliche) Effizienz und erhöht die Einsatzbereitschaft

Ein Beispiel hier ist die zivile Luftfahrt, die diese Funktion bereits zur Sichtung und Prüfung komplexer Anforderungsdokumente nutzt.
Verknüpfung Mensch und Maschine mit Visualisierung und Virtualisierung
Die Vorteile innovativer Technologien und ihre Anwendung entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Wehrtechnik sind vielfältig und signifikant. Prozessfokussierte Optimierungen mit innovativen Technologien bringt erheblichen Mehrwert in Bezug auf Qualität, Effizienz und Sicherheit. Die vorgenannten Anwendungsfälle mit Augmented Reality (AR) und Künstlicher Intelligenz (KI) zeigen exemplarisch, wie solche Lösungen konkret aussehen können.

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Lösungsansätze Device-agnostisch gestaltet werden sollten, um ihre Anpassungsfähigkeit an verschiedene Hardwareplattformen und zukünftige Gerätegenerationen zu gewährleisten. Durch die gezielte Integration dieser Technologien können, bei adäquaten Rahmenbedingen, Innovationsstaus überwunden werden. Eine enge Zusammenarbeit über Bereichs- und Unternehmensgrenzen hinweg sowie die Sicherstellung der Daten- und Informationshoheit als auch -fusion sind dabei essenziell.

Durch den gezielten Einsatz und die Förderung dieser Technologien können die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit erhalten und gestärkt werden. Die Zukunft liegt in der intelligenten Verknüpfung von Mensch und Technologie, um über die hier geschilderten Einsatzmöglichkeiten hinaus auch den Herausforderungen der interoperablen Systeme rund um das vernetzte Kampffeld und Software-Defined-Defense zu begegnen.

 

Autoren:

Dr. Ulf Glaser ist Geschäftsführer im Bereich Digital Engineering und Manufacturing bei Accenture.

Simon Herrmann ist Senior Manager im Bereich Digital Engineering und Manufacturing und berät Kunden im Verteidigungsbereich.

Lucas Kampe ist Senior Manager im Bereich Digital Engineering und Manufacturing mit Schwerpunkt Engineering Digitization.

Anja Del Fabbro ist Team Lead im Bereich Digital Engineering und Manufacturing mit Schwerpunkt immersive Technologien.

Mit WhatsApp immer auf dem neuesten Stand bleiben!

Abonnieren Sie unseren WhatsApp-Kanal, um die Neuigkeiten direkt auf Ihr Handy zu erhalten. Einfach den QR-Code auf Ihrem Smartphone einscannen oder – sollten Sie hier bereits mit Ihrem Mobile lesen – diesem Link folgen:

Beitrag teilen

Das könnte Sie auch interessieren

Anzeige

Verwendete Schlagwörter

DigitalisierungVirtual Reality
Index