Durch die VR-Brille von HTC sehe ich eine weiße Hand im schwarzen Raum – meine Hand. Jede Rührung meines Fingers wird von den kleinen Kameras an meiner Brille registriert und augenblicklich in die von Hologate geschaffene Virtualität übertragen. Ich ziehe die blaue Pistole aus meinem Holster. Im nächsten Moment stehe ich in einem demolierten Raum inmitten einer zerbombten Stadt. Bewaffnete Männer kommen auf mich zu. Ich schieße. Im Keller eines Münchner Bürogebäudes erlebe ich am eigenen Leib, wie real sich Virtualität anfühlt. Denn hier arbeitet das deutsche Start-up Hologate an Trainingssoftware für Streitkräfte und Polizei.
Grundlage für eine Simulation, wie ich sie bei Hologate erlebe, ist die Erweiterte Realität (XR). Diese Technologie spielt eine zunehmend wichtige Rolle auch in der Ausbildung von Militär und Polizei.
„Es geht um szenariobasiertes Training, es soll nicht die Schießbahn ersetzen“, erklärt mir der Leif Petersen, CEO von Hologate, bei meinem Besuch. Mit der von seinem Unternehmen entwickelten Software erleben Sicherheitskräfte realistische Trainingsszenarien in risikofreien Umgebungen. Ohne hohen Munitionsverbrauch oder aufwendige Kulissen auf dem Übungsplatz können selbst komplexe Situationen trainiert werden – im Keller oder in der Sporthalle. In München habe ich mir angesehen, was es dafür braucht.
XR-Technologie für polizeiliches und militärisches Training
Die Anforderungen an moderne Einsatzkräfte steigen stetig. Polizeikräfte und Soldaten müssen sich auf unterschiedliche Gefahrenlagen einstellen – von Geiselbefreiungen bis zu Einsätzen in Kriegsgebieten. Klassische Trainingsmethoden stoßen dabei oft an ihre Grenzen: Sie sind teuer, logistisch aufwendig und können nur begrenzt realitätsnahe Szenarien abbilden.
Mit einem Schmunzeln denke ich an meine eigene Ausbildung und die „Feinddarstellung“ der Kameraden zurück. Und tatsächlich: Eingetaucht in die Erweiterte Realität im Münchner Kellerraum wirkt die Computersimulation realistischer als damals.
Die zugrunde liegende Technologie XR steht für Extended Reality (zu Deutsch: Erweiterte Realität). XR ist ein Überbegriff, der verschiedene immersive Technologien umfasst. Dazu gehören:
- VR (Virtual Reality): Eine vollständig digitale Umgebung, in der der Nutzer komplett von der realen Welt abgeschirmt ist und interaktiv agieren kann.
- AR (Augmented Reality): Digitale Objekte oder Informationen werden über die reale Welt gelegt, wie z. B. bei einem Smartphone oder einer AR-Brille.
- MR (Mixed Reality): Eine Kombination aus realer und virtueller Welt, bei der digitale und physische Objekte nahtlos miteinander interagieren können.
XR beschreibt also das gesamte Spektrum dieser Technologien, das von rein virtuellen bis hin zu hybrid-realen Szenarien reicht. Ziel ist es, die realistische Interaktion zwischen dem Nutzer und virtuellen Inhalten zu ermöglichen und diese möglichst nahtlos in die Umgebung einzubinden.
Für mich bedeutet es, dass ich mit der realen Übungspistole in der Hand durch nicht existierende Türen trete. Es bedeutet, dass ich einen Schuss abgebe, ein Gasdruckzylinder für einen realen Rückstoß sorgt, während das virtuelle Geschoss den vorrückenden Gegner trifft.
Hologate – Von der Unterhaltungsschmiede zum Bundeswehr-Partner
Das Start-up Hologate wurde erst 2013 gegründet und hat sich seither als Anbieter von immersiven VR-Lösungen etabliert. Mit über 80 Angestellten und Hauptsitz in München fokussierte sich das Unternehmen zunächst auf High-End-Technologie für Unterhaltungszwecke.
Über 22 Millionen Spieler in 42 Ländern konnten bereits mit Klassikern wie Angry Birds oder Ghost Busters in ganz neue Dimensionen eintauchen. Erfahrungen in der Unterhaltungsbranche, die sich die Programmierer von Hologate zunehmend auch für professionelle Anwendungen bei Polizei und Militär zunutze machten.
Unter der Marke HGXR bietet Hologate heute auf die Bedürfnisse seiner Kunden abgestimmte Extended-Reality-Lösungen an. So stammt beispielsweise die Software für die Übungssimulation des Enforcer von MBDA genauso von HGXR wie jene des Hubschraubersimulators, der aktuelle bei der Bundeswehr getestet wird.
Die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr geht noch weiter: Die Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition (WTD 91) testet in einer dreijährigen Studie die Möglichkeiten digitaler Gefechtsübungen mit XR-Technologien.
Ein Kernbereich dieser Kooperation ist die Entwicklung individueller XR-Szenarien, die auf spezifische Einsatzszenarien der Bundeswehr zugeschnitten sind. Neben der realitätsnahen Darstellung sollen die Soldatinnen und Soldaten auch von der flexiblen Anpassung der Trainingsinhalte an aktuelle Bedürfnisse profitieren. Häuserkampf oder der Betrieb von Checkpoints kann somit an ein und demselben Ort geübt werden.
Was ich im kleinen Münchner Keller erlebe, sollen die Teams der Bundeswehr mit bis zu vier (später mehr) Personen auch in der Sporthalle ihrer Kaserne durchführen können. Möglich macht das die mobile Lösung von Hologate, die neben dem wesentlichen Element – der VR-Brille von HTC – auch Körpersensoren, Ausrüstungsgegenstände und ordentlich Rechenleistung benötigt.
Die Technik hinter der Hologate-Software
Im Mittelpunkt der XR-Lösungen von Hologate stehen leistungsstarke VR-Brillen der HTC VIVE-Familie, die für ihre hohe Auflösung und geringe Latenz bekannt sind. Diese Brille bietet eine 5K Auflösung und ein breites 120˚-Sichtfeld. Das ermöglicht eine immersive Darstellung der Szenarien, bei der selbst kleinste Details erkennbar sind.
Zwar lässt sich die Softwarelösung von HGXR auch mit Hardware aus anderen Unternehmen, wie beispielsweise Varjo, nutzen, doch bringt die enge Kooperation mit HTC zusätzliche Vorteile. Hologate hat Zugriff auf die neuesten Entwicklungen und bei Bedarf technischen Support. Im Gegenzug hilft das professionelle Feedback von Hologate auch den Ingenieuren bei HTC. Manch eine Verbesserung konnte schon auf „dem kurzen Dienstweg“ erzielt werden, erfahre ich in München.
„HTC VIVE hat eine lange Geschichte der Innovation und des Vorantreibens technologischer Grenzen“, erklärt mir Fabian Nappenbach, Director Product Marketing bei HTC.
„Es freut uns, wenn Organisationen darauf aufbauen, um unglaubliche Erlebnisse zu schaffen. Hologate/HGXR ist ein großartiges Beispiel dafür, wie unsere 5K-Visuals und weltweit führenden Free-Roam-Fähigkeiten genutzt werden, um alles vom Gaming bis hin zum Training auf ein neues Niveau zu heben. Jetzt können Menschen völlig natürliche Bewegungen ausführen und sogar reale Ausrüstungen perfekt in der virtuellen Umgebung verwenden.“
Nappenbach spricht die vielseitig einsetzbare Tracking-Technologie an – ebenfalls von HTC. Die VIVE Ultimate Tracker erfassen präzise Bewegungen des Nutzers in Echtzeit. Neben der Bewegung des eigenen Körpers, ist die genaue Position von Gegenständen wesentlich.
In der hauseigenen „Waffenschmiede“ von Hologate werden Pistolen, Messer und Schlagstöcke mit Sensoren ausgestattet. So weiß die virtuelle Realität genau, was gerade wo und wie vom Nutzer eingesetzt wird. Für die Darstellung der Wirkung ist dann der Computer zuständig.
Ergänzt wird die Simulation durch taktiles Feedback. Für meine realistische Erfahrung genügten mir der Pistolenrückstoß und die leichte Vibration am Rücken, als ich mich gegen eine Wand lehnte. Deutlich mehr ist möglich: Durch optionale Elektroschocks können unter anderem Verwundungen „fühlbar“ gemacht werden.
Aus dem Unterhaltungssektor bekannt ist die Multiplayer-Funktionalität. Diese erlaubt es mehreren Nutzern, gleichzeitig im gleichen virtuellen Szenario zu agieren. Dadurch werden Übungen im Team erst möglich.
Als Fläche reicht zunächst besagter Kellerraum von wenigen Metern Länge. Besser sind größere Räume, wie Sporthallen. Der Aufbau der mobilen Technik von Hologate erfolgt in wenigen Stunden. Nach dem Training kann die gesamte Simulationsausrüstung abgebaut, verpackt und in der nächsten Kaserne wieder aufgebaut werden.
Vom Spiel zum ernsten Training
Ich „übe“ in der stationären Version. Zunächst bekomme ich eine Weste angezogen, dazu Sensoren für Hände und Füße. Die Pistole wird mir in den Holster und die HTC VIVE-Brille auf die Nase gesteckt. Dann heißt es warten. Das System muss hochfahren, eingerichtet werden. Bei der Verbindung mit einem Sensor hakt etwas. Ich sehe mein virtuelles Bein anatomisch nicht korrekt von mir abgewinkelt. Systemneustart, dann klappt es.
Um einen Eindruck von Vielseitigkeit und Detailtiefe zu erhalten, werden mir verschiedene Szenarien gezeigt. Gemeinsam mit Leif Petersen stelle ich bewaffnete Gegner in einer Wohnung und betrete als Streifenpolizist eine Tankstelle, in der ich mit einer Geiselnahme konfrontiert werde. Vieles erinnert an Videospiele, die ich aus meiner Jugend kenne.
Doch ich sitze nicht am PC. Ich habe keine Maus, sondern eine Pistole in der Hand. Ich öffne virtuelle Türen durch eine entsprechende Handbewegung, nicht durch einen Klick. Um mich hinter den Polizeiwagen zu ducken, gehe ich in die Knie und drücke nicht STRG.
Das Training in dieser erweiterten Realität ist so nah, so real, dass manch ein gestandener Soldat völlig darin aufgeht, erfahre ich von Petersen. Und es stimmt: Die Grenze zwischen Realität und Simulation verschwimmen schneller, als ich es vor meinem Besuch in München gedacht hätte. Es ist eben kein Spiel.
Bewusst wird mir das nach meiner – selbstverständlich erfolgreichen – Auflösung der Geiselnahme in der virtuellen Tankstelle. Hologate-CTO Jan Ottens nimmt mich mit an einen Bildschirm, der eine genaue Analyse meiner Übung liefert. Die Tankstelle in der Draufsicht; im Replay sehe ich eingezeichnet, wohin ich wie lange geschaut habe.
Nicht hinter jede Zapfsäule, aber beim Betreten des Verkaufsraums immerhin in die Ecke hinter der Tür. Fast jedes Detail und jeder Ablauf der Simulation lässt sich in Zeitlupe und aus diversen Blickwinkeln analysieren – auch die Schussabgabe auf den Geiselnehmer.
So ermöglicht das Training mit der Hologate-Software eine ungleich exaktere Nachbearbeitung, als es auf den Übungsplätzen der Truppe überhaupt möglich wäre. Jede Bewegung, jeder Blick wird erfasst und jeder Fehler, jede Optimierungsmöglichkeit gefunden.
Zukunftsperspektive: KI ergänzt XR-Training
Die Zukunft des XR-Trainings ist vielversprechend. Hologate will hierbei eine zentrale Rolle in der Weiterentwicklung spielen. Neben der bereits angesprochenen Kooperation mit der Bundeswehr, nutzen auch Polizei in der Schweiz und die Polizei Hessen die XR-Expertise des Münchner Unternehmens. Auf der technologischen Seite plant Hologate, die Grenzen der Immersion weiter auszudehnen, indem neue Hardware und verbesserte KI-Systeme integriert werden.
Am Ende meines Tages bei Hologate bin ich froh, einen Einblick in die heutigen Übungsmöglichkeiten erhalten zu haben. Durch die Kombination aus High-End-Technologie und praxisnaher Anwendung kann hier ein echter Mehrwert geschaffen werden – nicht nur spielerisch.
Mit WhatsApp immer auf dem neuesten Stand bleiben!
Abonnieren Sie unseren WhatsApp-Kanal, um die Neuigkeiten direkt auf Ihr Handy zu erhalten. Einfach den QR-Code auf Ihrem Smartphone einscannen oder – sollten Sie hier bereits mit Ihrem Mobile lesen – diesem Link folgen:
