Air DefenceNutzung

Der komplementäre Ansatz – Bedrohungen aus der Luft

Hat der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien im Jahr 2020 die neue Rolle von unbemannten Luftfahrzeugen augenfällig gemacht, wurde schlagartig am 24.02.2022, dem Beginn des Ukrainekrieges, klar, was die Bedrohungen aus der Luft in aktuellen und zukünftigen Konflikten bedeutet.

Bedrohungen aus der Luft: Die Lenkflugkörper des Flugabwehrraketensystems PATRIOT
Die Lenkflugkörper des Flugabwehrraketensystems PATRIOT werden von den Launchern verschossen auf der Schießbahn der NATO Missile Firing Installation (NAMFI) während der Übung Spartan Arrow auf der Insel Kreta in Griechenland.
Foto: Bundeswehr/Lars Koch

War es zu Beginn des Krieges die Luftherrschaft der russischen Streitkräfte durch qualitative und quantitative Überlegenheit mit „klassischen“ Luftangriffsmitteln und das gezielte Niederhalten der ukrainischen Luftverteidigung, gewann im Laufe des Krieges der umfassende Einsatz auch bewaffneter unbemannter Luftfahrzeuge, weitreichender Artillerie und Loitering Munition immer mehr an Bedeutung. Erstmals kam es zum Einsatz von Hyperschallflugkörpern.

Seit der Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 und der Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung als den Kernauftrag der Bundeswehr wurden weniger priorisierte bzw. aufgegebene Fähigkeiten wieder in den Vordergrund gerückt. Die Fähigkeit Abwehr gegen die Bedrohung aus der Luft gehört dazu. Konzeptionell und rüstungstechnisch wurde hier in den letzten Jahren viel angestoßen. Hier sind besonders die Projekte Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz (LVS NNbS), die NDV FlaRak-System PATRIOT und die Beschaffung des TBM Abwehrsystems ARROW 3 zu nennen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir hier noch nicht einmal den halben Weg gegangen sind. Und einige Projekte konnten nicht realisiert werden (TLVS MEADS) oder ihre Realisierung verläuft unbefriedigend (Modul qFlgAbw GTK BOXER). Aus Sicht des Heeres ist ein systemübergreifendes Gesamtkonzept zum Schutz gegen Bedrohungen aus der Luft zu entwickeln, dass die Bedrohung durch UAS Class I explizit berücksichtigt. Wir sprechen hier vom komplementären Ansatz, bestehend aus Luftverteidigungssystemen, Fliegerabwehr und qualifizierter Fliegerabwehr sowie Selbstschutzausstattungen von Landplattformen.

Betrachtung NNbS

Die Beschaffung des Luftverteidigungssystems für den NNbS in Verantwortung der Luftwaffe wird aus dem Sondervermögen finanziert und liegt im Zeitplan, das heißt aber weiterhin, in der 2. Hälfte des laufenden Jahrzehnts. Das LVS NNbS ist ein hochkomplexes, modulares und hochmobiles System. Mit dem Abschluss der Beschaffung würde die Bundeswehr über eines der modernsten und zukunftsfähigsten SHORAD-Systeme verfügen, das in der Lage ist, sowohl gegen das „klassische“ Zielspektrum, als auch gegen die neuen Herausforderungen (UAS Class I, Loitering Ammunition) wirken zu können.

Soldaten vom Panzergrenadierbataillon 112 führen auf dem Truppenübungsplatz Bergen eine Gefechtsübung mit dem Schützenpanzer Puma durch.
Foto: Bundeswehr/Maximilian Schulz

In den aktuellen Strukturen ist der federführende militärische Organisationsbereich (MilOrgBer), die Luftwaffe, unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht in der Lage, den erforderlichen DP-Umfang und damit verbunden das erforderliche Personal bereit zu stellen. Aus diesem Grund wurde in einer gemeinsamen Untersuchung durch Luftwaffe und Heer seit 2020 geprüft, ob und wie hier eine mögliche Aufteilung der Elemente des LVS NNbS erfolgen könnte.

Seit Anfang 2023 ist entschieden, dass es die Aufteilung Nahbereichsschutz bei der Luftwaffe und Nächstbereichsschutz beim Heer geben soll. Das bedeutet, das Heer ist Mitnutzer des LVS NNbS, die Gesamtverantwortung verbleibt bei der Luftwaffe. Die Heeresflugabehrtruppe wird nicht wieder aufgestellt, auch nicht in einer „Lightversion“. Aktuell sind wir im Heer intensiv daran, die strukturellen und organisatorischen, aber auch die konzeptionell-operationellen und logistischen Voraussetzungen zu schaffen gegen Bedrohungen aus der Luft. Diese Lösung ist eine den Umständen geschuldete, keine optimale.

Das LVS NNbS ist ein geschlossenes System aus verschiedenen Sensor- und Effektormodulen, die im Zusammenwirken und gegenseitigen Ergänzen der Wirkmöglichkeiten die effektive Bekämpfung des gesamten Bedrohungsspektrums ermöglichen. Effektiv und effizient kann das LVS nur sein, wenn es aus einer Hand, sprich in der federführenden Verantwortung eines MilOrgBer, genutzt und weiterentwickelt wird.

Ein weiterer wesentlicher Teil des komplementären Ansatzes ist die Fliegerabwehr aller Truppen. Sie wird auch zukünftig mit allen dazu geeigneten Waffen und Maßnahmen der Truppe durchgeführt. Mit den heute und zukünftig verfügbaren, modernen Gefechtsfahrzeugen und ihren Aufklärungs- und Wirkmitteln haben sich gleichermaßen die Möglichkeiten zur Abwehr von Bedrohungen aus der Luft erweitert.

Dies gilt es operationell und technisch zu bewerten. Es ist erforderlich, die Fähigkeit Fliegerabwehr den aktuellen Entwicklungen anzupassen und neu zu gestalten, z.B. durch die konsequente Integration von Selbstschutzsystemen und Sensorsystemen der Gefechtsfahrzeuge in die Fliegerabwehr. Aus Sicht des Heeres ist mittel- bzw. langfristig auch eine Schnittstelle für den Informationsaustausch mit den NNbS-Systemen zu definieren.

Die Erweiterung der Befähigung zur Fliegerabwehr ist im Werden. In allen aktuellen Projekten für zukünftige, aber auch für schon in Nutzung befindliche Landplattformen, z. B. Schützenpanzer PUMA, werden sensorische und effektorische Lösungen integriert, die eine neue Qualität der Fliegerabwehr darstellen.

Das Waffensystem MANTIS steht im Camp Castor bei der Mission MINUSMA in Gao/Mali.
Foto: Bundeswehr/Patrik Bransmöller

Selbstschut bei Bedrohungen aus der Luft

Letztes Glied im komplementären Ansatz ist die Selbstschutzausstattung. Der hier verwendete Begriff „Selbstschutz“ soll aus Sicht des Heeres die Abgrenzung zur Fliegerabwehr aller Truppen bzw. der qualifizierten Fliegerabwehr unterstreichen.

Hierbei wird der Selbstschutz als letzte Bastion des Schutzes, nämlich der Schutz der Plattform selbst, gesehen. In der aktuell angestrebten Form gibt es keine Anbindung an die bodengebundene Luftverteidigung und auch keine Einbindung in die Fliegerabwehr aller Truppen.

Dieser geforderte Schutz richtet sich gegen die Bedrohung durch UAS Class I, im Wesentlichen in der Unterkategorie der Mini- und Mikro-UAS, sowohl einzeln als auch in Gruppen, und in unmittelbarer Umgebung der jeweiligen Plattform.

Aus Sicht des Heeres soll es sich hierbei um ein reines Selbstschutzsystem handeln, das losgelöst von vernetzten Systemen operiert und vollautomatisch die Plattform vor der Bedrohung durch Mini- und Mikro-UAS schützen soll.

Hierbei gilt es, praktisch alle Plattformen – vom Lkw bis zum Kampfpanzer – mit ihren jeweiligen Besonderheiten, so zu schützen, dass ihre Hauptaufgabe nicht im Geringsten beeinträchtigt wird.

Dabei kommt es besonders darauf an, dass sich die Plattformen selbst schützen können, und zwar unabhängig sowohl von der Gefechtsart, als auch vom Raum und vom jeweiligen Standort.

Durch die immer wieder erfolgten Verzögerungen im Projekt LVS NNbS musste auch vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges gehandelt werden.

Als erster Schritt wurde die Beschaffung von sechs Systemen des LVS IRIS-T SLM durch die Luftwaffe beauftragt. Dieses LVS ist nicht identisch mit dem Medium Range-Anteil des LVS NNbS. Für den Nächstbereichsschutz, zukünftig im Heer verortet, werden mehrere Zwischenlösungen untersucht. Das macht Sinn, aber es muss dabei darauf geachtet werden, dass sie in die Konzeption und Fähigkeitsforderung des LVS NNbS integrierbar sind. Insellösungen bringen uns nicht voran, kosten Geld und verhindern die Zukunftsfähigkeit des LVS NNbS.

Oberstleutnant Jürgen Däumer, Dezernat I 1 (2), Amt für Heeresentwicklung

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Verwendete Schlagwörter

HeerLuftwaffeNNbSPatriotUAS
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