Seit der Außerdienststellung der Waffensysteme Gepard und Roland verfügt die Bundeswehr nur über eingeschränkte Möglichkeiten, um den Nah- und Nächstbereichsschutz für landgebundene Verbände sicherzustellen. Mit dem Vorhaben Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz (LVS NNbS) möchte die Arbeitsgemeinschaft der drei Firmen Rheinmetall, Hensoldt und Diehl die derzeitige Fähigkeitslücke gegen Bedrohungen aus der Luft schließen. Eine Einordnung des Vorhabens durch Rainer Krug, Chefredakteur cpmFORUM.
Operationen von Landstreitkräften sehen sich in den aktuellen Konfliktsituationen angesichts massiver und neuer Bedrohungen (insbesondere durch UAV und Loitering Ammunition) aus der Luft taktischen Beschränkungen ausgesetzt. Die Konflikte um Berg-Karabach sowie in der Ukraine zeigen eine massive Bedrohung durch Cruise Missiles, Artillerieraketen, Drohnen (UAS) und Kamikazedrohnen (Loitering Ammunition).
Seit der Außerdienststellung der Waffensysteme Gepard und Roland verfügt die Bundeswehr nur über eingeschränkte Möglichkeiten, um den Nah- und Nächstbereichsschutz für landgebundene Verbände sicherzustellen: Hierzu stehen als mobiles System lediglich das leFlaSys (Ozelot auf Wiesel) sowie stationär Mantis zur Verfügung. Mit dem Vorhaben Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz soll die derzeitige Fähigkeitslücke beim Schutz von Bodentruppen im mobilen Einsatz sowie bei der Absicherung von Gefechtsständen und Liegenschaften gegen Bedrohungen aus der Luft geschlossen werden.
Grundsätzlich wird Luftverteidigung als sogenannter Layered Defence mit aktuell insgesamt vier Layern durchgeführt. In Zukunft müssen – insbesondere zur Detektion von TBMs – auch weltraumgestützte Sensoren mit einbezogen werden. Hier könnte konzeptionell ein fünfter Layer – der Layer Weltraum – mit ins Spiel kommen.
Konzept der ARGE NNbS berücksichtigt Modularität und Vernetzung der Komponenten
In einer Präsentation am 5. Oktober 2022 stellten die Firmen Rheinmetall, Hensoldt und Diehl einen Systemansatz vor, der eine Lösung für den Nah- und Nächstbereichsschutz auf Basis verfügbarer Komponenten risikoarm und möglichst kurzfristig verfügbar machen könnte. Die drei Firmen hatten sich im Jahr 2021 zur Arbeitsgemeinschaft ARGE NNbS zusammengeschlossen, um eben diesen Systemansatz zu erarbeiten.
Das vorgestellte Konzept berücksichtigt insbesondere die Forderungen nach Modularität und Vernetzung der Komponenten des Systems. Modularität ist eine der Kernforderungen, da aufgrund der Forderung nach rascher Verfügbarmachung von Fähigkeiten zunächst vielleicht nur Einzelkomponenten eines NNbS Systems realisiert werden können, die Anbindung in ein Gesamtsystem NNbS aber unabdingbar ist. Modularität kann dabei durch die Verwendung offener oder standardisierter Schnittstellen, standardisierter Datenformate oder einer Kombination von beidem sichergestellt werden. Modularität stellt auf der anderen Seite aber auch sicher, dass technologische Weiterentwicklungen, sowie neue Fähigkeiten auf der Basis der offenen Schnittstellen einfach und risikoarm in ein Gesamtsystem NNbS integriert werden können.
Andererseits ist es aber das Netz/die Vernetzung, das die Leistungsfähigkeit eines Luftverteidigungssystems NNbS sicherstellt. Nur mit einer umfassenden Vernetzung, die nicht nur die Einzelkomponenten eines LVS NNbS umfasst, sondern auch die Anbindung an die integrierte Luftverteidigung und Flugkörperabwehr der Nato sicherstellt kann schnelle Reaktion und dimensionsübergreifende Luftverteidigung sichergestellt werden. Nur über die Vernetzung können auch bestehende Systeme wie das leFlaSys oder auch Mantis eingebunden werden. Dies erhöht insgesamt die Wirksamkeit der nationalen und internationalen Luftverteidigung gegenüber der Einführung von Insellösungen signifikant.
Darüber hinaus ist es Fakt, dass moderne Waffensystemlösungen sowohl im Bereich der Flugabwehr, als auch im Bereich des streitkräftegemeinsamen indirekten Feuers, oder auch in zukünftigen (fliegenden und nicht fliegenden) Waffensystemen, wie FCAS oder MGCS immer auf Vernetzung der Einzelkomponenten Sensoren, Waffen und Führungs- und Waffeneinsatzsystem beruhen.
Sensoren und Effektoren im vernetzten System
Nah- und Nächstbereichsschutz nach heutiger Definition deckt im System Layered Defence die beiden unteren, bodennahen Layer – im vorliegenden Fall – bis zu einer Flughöhe von ca. 20.000 m ab. Um in diesem Höhenbereich wirksam zu sein, bedarf es wie erwähnt der modularen Gestaltung eines Sensorsystems, das einerseits aktive, ggf. passive Radarsensoren unterschiedlicher Reichweite, Infrarotsensoren und optische Sensoren geeignet einbindet. Je nach Anwendungsfall insbesondere im begleitenden Einsatz bodengebundener Gefechtsverbände sind diese Sensoren auf Rad- oder Kettenfahrzeugen integriert, je nach Layer auch zu einem eigenständigen Subsystem mit entsprechenden Effektoren (Raketen, Laser oder auch Rohrwaffen) integriert.
Daneben wird es insbesondere für Bedrohungen aus dem Bereich Medium Range eigenständige Effektorsysteme geben, z.B. IRIS T SL, die ebenfalls über das Netz in das Gesamtsystem eingebunden werden. Gerade in diesem Entfernungsbereich spielen das Netz beziehungsweise die Vernetzung eine entscheidende Rolle. Effektorsysteme verfügen nicht mehr über eigene Sensoren zur Erkennung und Lokalisierung der Bedrohung sowie zum Sicherstellen der Zielverfolgung, sondern sind von externen Sensoren und deren Zieldaten abhängig. Hier hat gerade auch der Gefechtsstand NNbS eine hohe Bedeutung, da von dort festzulegen ist, welches Waffensystem auf dem Gefechtsfeld den besten Wirkungsgrad gegen eine erkannte Luftbedrohung hat und daher von dort die Zielzuweisung an die einzelnen Effektorsysteme erfolgen wird.
Dies macht deutlich: Luftverteidigung im Nah- und Nächstbereich kann umfassend nur in einem vernetzten Lösungsansatz erfolgen. Einzelsysteme bieten lediglich für begrenzte Bedrohungslagen – wie bei der Flugabwehr bodengestützter mobiler Einheiten – eine begrenzte Wirksamkeit und Schutz.
Externe Kommunikation: Abgleich zum Vorhaben D-LBO erforderlich
Ein weiterer Aspekt, der in einem LVS NNbS berücksichtigt werden muss, ist die externe Kommunikation (Daten und Sprache) in die Führungssysteme des Heeres, ggf. der Luftwaffe und ggf. der Marine. Unter dem Gesichtspunkt der gleichzeitigen Realisierung des Vorhaben Digitalisierung Landbasierter Operationen (D-LBO) muss hinsichtlich der Kommunikation Vorsorge getroffen werden, dass Bedrohungen und Zieldaten zwischen den unterschiedlichen Systemen ausgetauscht werden können und die begleitete Truppe stets ein aktuelles Bild der Bedrohung hat, um eigene Schutzmaßnahmen vornehmen zu können. Fragen der Funkgeräteintegration, des erforderlichen Kommunikationsbedarfs und des angepassten taktischen Verhaltens sind hier zu klären.
Vorphase der Vertragsvorbereitung zwischen Industrie und Beschaffungsbehörde
Aktuell befindet sich das Vorhaben NNbS in einer Vorphase der Vertragsvorbereitung. In umfangreichen Gesprächen findet zwischen Industrie und Beschaffungsbehörde ein Abstimmungsprozess statt, der dazu dient, die aktuelle Forderungslage nach mehr als 4500 Einzelforderungen für das System so angemessen zu reduzieren, dass eine weitgehend marktverfügbare Lösung realisiert werden kann. Aktuell werden im Rahmen des Forderungscontrollings die Fähigkeitsforderungen an das System überprüft und wo erforderlich angepasst. Das Vorhaben ist andererseits im 100 Mrd Euro Sondervermögen für die Bundeswehr abgebildet. Dies ermöglicht, dass nach Vorliegen der erforderlichen Dokumentenlage dem Einstieg in eine Beschaffung nichts im Wege steht.
Resümee: Vielversprechender Systemansatz
Zur umfassenden und bedrohungsgerechten bodengebundenen Flugabwehr ist ein vernetzter Ansatz erforderlich. Hierfür sind industriell bereits Einzelkomponenten verfügbar. Der durch die ARGE vorgestellte Systemansatz entspricht der Forderungslage und stellt eine modulare, vernetzte und für den begleitenden Einsatz geeignete technische Lösung dar. Das technologische Risiko scheint aufgrund der Verwendung eingeführter (Mantis, leFlaSys) bzw. marktverfügbarer Komponenten (Radare, IRIS T SL, etc.) beherrschbar. Durch die vorhandene Modularität scheint der Systemansatz zukunftssicher und gegenüber technischen Änderungen und Verbesserungen offen.
Autor: Rainer Krug, Chefredakteur cpmFORUM