Strategie

20 Jahre Afghanistan – ein Rückblick

In den vergangenen Monaten überschlugen sich die Meldungen zum Truppenabzug der internationalen Kräfte aus Afghanistan. Selbst der wenig medienaffine Konsument kam an diesem Thema nicht vorbei, das – vielleicht endlich – die Medien dominierte. Denn deutsche Soldaten waren 20 Jahre lang in einem Land, dessen Konflikt offensichtlich bis heute schwelt.

Ein Soldat sichert die Hubschrauberlandezone für den Rettungshubschrauber CH-53 während der Übung "Rettung in der Not" des Personnel Recovery Teams in der Nähe von Mazar-e Sharif in Afghanistan im Rahmen der Mission Resolute Support.
Ein Soldat sichert die Hubschrauberlandezone für den Rettungshubschrauber CH-53 während der Übung "Rettung in der Not" des Personnel Recovery Teams in der Nähe von Mazar-e Sharif in Afghanistan im Rahmen der Mission Resolute Support.
Foto: Bundeswehr/Andre Klimke

Mit Einleiten des Truppenabzugs wurden unterschiedlichste Stimmen aus allen möglichen Interessengruppierungen laut, die mit Vehemenz auf den fahrenden Zug einer Welle der Empörung aufsprangen. Und dieser raste, in einem vergleichbaren Tempo der Taliban bei ihrem Vormarsch auf die Stadt Kabul, in ein perspektivisches Szenario mit unabsehbaren Konsequenzen. Was der westliche Beobachter jedoch wissen musste: die grundsätzlichen Wertevorstellungen der Taliban lassen sich mit unseren demokratisierten Weltbildern kaum vergleichen.

Binnen kürzester Zeit schickten diverse westliche Staaten eine Vielzahl Soldaten, um die – bis zu diesem Zeitpunkt – versäumte Rückholung der Ortskräfte doch noch zu bewerkstelligen. Von einer koordinierten Rückholung konnte jedoch nicht mehr die Rede sein. Dies zeigte sich auch bei den verheerenden Anschlägen, wie am 26. August 2021, bei denen mehr als 180 Menschen ihr Leben verloren. Unter ihnen auch diverse Taliban. Zu dem Anschlag bekannte sich die Terrorgruppe IS, welche mit dieser grausamen Tat ihre Ansprüche auch in Afghanistan erneut verdeutlichte.

Betrachtet man das stark divergierende „Wording“, das im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Einsätzen in Afghanistan zu Tage kam, so kann man schon die Übersicht verlieren.

Operation Enduring Freedom

Über allem steht: Artikel 5 des Nordatlantikvertrages galt als Grundlage des Einsatzes, der eine Reaktion auf die Anschläge auf die USA am 11.9.2001 war. Operation Enduring Freedom, an der auch Deutschland beteiligt war, zielte auf die Bekämpfung von Terrorgruppen ab. Daneben wurde die ISAF, die International Security Assistance Force, durch den UNO Sicherheitsrat beschlossen. Sie war ein Resultat der ersten Afghanistan-Konferenz im Jahr 2001 und stellte auf „provisorische Regelungen in Afghanistan bis zum Wiederaufbau dauerhafter Regierungsinstitutionen“ ab.

Deutlich wurde auch: dies war keine „Blauhelm-Mission“. Es handelte sich um eine friedenserzwingende Maßnahme, welche unter Einsatz von Kriegswaffen erfolgte. Klar ist aber weiter: wir sprechen an dieser Stelle über politische Abkommen. Über Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ihren Bündnispartnern gegenüber und von einem politischen „Nachkommen“ eben dieser Verpflichtungen.

Namentliche Abstimmung im Deutschen Bundestag über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Namentliche Abstimmung im Deutschen Bundestag über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 (2010) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
Foto: Bundeswehr/Andrea Bienert

Bundeswehreinsatz ohne klare Missionsziele

Aus den genannten Beschlüssen lassen sich jedoch keine Missionsziele der Bundeswehr ableiten. Die Bundeswehr zog in diesen internationalen Einsatz, weil es ihr Auftrag war. Und dem laienhaften Blick bleibt dies auch vorerst das Erkennbare. Der Auftrag der Bundeswehr war es, dem Auftrag eines internationalen Einsatzes nachzukommen. Und selbstverständlich war dieser Einsatz, ebenso wie alle anderen Einsätze der Bundeswehr, mandatiert durch den Deutschen Bundestag.

Bringen wir dies mit der Diskussionskultur in Deutschland und dem bereits angesprochenen „Wording“ in Verbindung, so suchte man das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit diesem Einsatz lange Zeit vergebens. Die unterschiedlichen innerstaatlichen Konflikte in Afghanistan, eine Vielzahl von kleinen Gruppierungen, ein „föderal-dörfliches“ Konstrukt politisch relevanter Dorfältester in einer kulturell durchmischten Umgebung und die im Land klar gewollte Vermischung von Kirche und Staat lassen ein Verständnis der Region, und somit auch ihrer Konflikte, selbst bei tiefgehender Informationsgrundlage nur in einem verschwommenen Bild zu. Dieses versuchte man verzweifelt in ein westliches Korsett zu pressen. Doch es konnte nicht Grundlage für den Auftrag der Bundeswehr insgesamt sein. Die Bundeswehr befand sich weiterhin in einem mandatierten Auftrag, dessen für die Öffentlichkeit erkennbares Ziel lediglich die Teilnahme an diesem Einsatz zu sein schien.

Schon hier lässt sich die Tendenz einer persönlichen Antwort auf die Frage „Ist der Bundeswehreinsatz in Afghanistan gescheitert?“ ablesen. Die Bundeswehr ist ihrem Auftrag nachgekommen. Terrorkräfte wurden zumindest zeitweise in ihren Aktionen eingeschränkt, eine ganze Generation junger Menschen konnte in relativer Freiheit unter dem Schutz der internationalen Kräfte demokratisches Leben, Bildung und Gesellschaft ausleben.
Politisch muss man den Einsatz der Bundeswehr aber sicherlich noch einmal genauer betrachten. Um hierbei zu einem Schluss zu kommen, muss ein erkennbares Ziel politischer Motivation vorhanden sein. Anhand dieses Einsatzes ist klar geworden, dass neben einer Exit-Strategie ein politisches Ziel des Einsatzes definiert werden muss, das mehr denn je handlungsleitend für den Einsatz nicht nur der Bundeswehr, sondern auch der zivilen Sicherheitsorgane sein kann.

Wie gesagt: ginge es rein um die Erfüllung der Bündnispflicht resultierend aus Artikel 5, so hätte die politische Ebene mit dem Entsenden der Bundeswehr ihren Anteil erfüllt.

Einordnung durch die Bundeswehr selbst

Im Netz kann dazu auf der Seite Bundeswehr.de folgender Absatz erläuternd zu ISAF gefunden werden:
„Gemäß der Sicherheitsratsresolution 2120 vom 10. Oktober 2013 hatte der ISAF International Security Assistance Force-Einsatz das Ziel, Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit so zu unterstützen, dass sowohl die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der Vereinten Nationen und anderes internationales Zivilpersonal, insbesondere solches, das dem Wiederaufbau und humanitären Aufgaben nachgeht, in einem sicheren Umfeld arbeiten können. Dabei standen insbesondere die Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte Afghan National Army (ANA Afghan National Army) und Afghan National Police (ANP Afghan National Police) im Mittelpunkt.“

Auch hier lässt sich erkennen, dass zumindest in begrenztem Umfang, die definierten Ziele als erfüllt bewertet werden könnten. Weiter heißt es:

[…] Die Bundeswehr beteiligte sich mit bis zu 5.350 Soldatinnen und Soldaten am ISAF International Security Assistance Force-Einsatz. Zum 31. Dezember 2014 wurde die NATO-Mission ISAF International Security Assistance Force beendet und in die Ausbildungsmission Resolute Support überführt.“
Bundeswehr.de zum ISAF-Einsatz in Afghanistan

Insbesondere hierdurch wird aber deutlich: Die unterschiedlichen Missionen in Afghanistan lassen eine ganzheitliche Betrachtung eines „Afghanistan-Einsatzes“ eigentlich nicht zu.

Eine Schlussfolgerung könnte daher wie folgt lauten: Definiert man ein politisch motiviertes, militärisches Ziel eines Einsatzes nicht oder nur vage, so erlaubt dies bei nachträglicher Betrachtung eigentlich keine Schlussfolgerung auf ein Scheitern – selbst aus politischer Warte.

Der Ehrenhain im Camp Marmal in Afghanistan bei Sonnenaufgang.
Der Ehrenhain im Camp Marmal in Afghanistan bei Sonnenaufgang.
Foto: Bundeswehr/Tom Twardy

Was bleibt nach 20 Jahren?

Und dennoch: wir haben eine viel zu hohe Zahl gefallener deutscher Soldaten, die uns vor die Frage nach dem Warum stellen. Wir haben eine viel zu hohe Anzahl verwundeter und eine noch nicht absehbare Anzahl traumatisierter Soldatinnen und Soldaten. Allein dies erfordert es, diesen Einsatz deutscher Soldaten als einen Einsatz in einem Krieg zu bewerten. Es bleibt die Frage nach dem was bleibend ist. Vielleicht lassen uns gerade die vergangenen Monate und Wochen des Abzugs aus Afghanistan mit einem anderen Blick auf die Jahre nach 2015 blicken.

Betrachten wir die Entwicklungen, die Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren durchlaufen hat, so lassen sich auch viele – aus westlicher Sicht – positive Entwicklungen bemerken. Besonders mit Blick auf Frauenrechte hat sich eine Welle der Emanzipation abgezeichnet, welche durch beispielsweise Frauen als Leiterinnen von Bildungsstätten skizzierbar ist.

Viele in westlichen Ländern inzwischen als selbstverständlich anerkannte Weltanschauungen keimten in den Bildungsschichten und in vielen Bereichen würde der westliche Betrachter sicher unbestritten einen Freiheitszuwachs für einen Großteil der Bevölkerung unterstellen. Doch ausgelöst durch den Abzug der amerikanischen Truppen, eingeleitet durch Verhandlungen des damaligen Präsidenten Donald Trump und dessen Umsetzung durch Joe Biden, wandelte sich dieses Bild in rasender Geschwindigkeit.

Das zu Beginn genutzte Bild des „Aufspringens auf den fahrenden Zug“ beschreibt vielleicht am besten die turbulente und ebenso rasante Entwicklung nach dem Truppenabzug der internationalen Kräfte. Das „föderal-dörfliche“ Konstrukt schien diesem Truppenabzug nicht gewachsen gewesen. Vielleicht war es auch einfach falsch, eine inhärente umfassende Akzeptanz westlicher Werte und Weltanschauungen in der Gesellschaft zu unterstellen.

Politische Rückschlüsse der USA

Vielleicht ist die Konsequenz in der Ansprache des US-Ameri­kanischen Präsidenten vom 31.8.2021 erkennbar: „As we turn the page on the foreign policy that’s guided our nation the last two decades, we’ve got to learn from our mistakes. To me there are two that are paramount: First, we must set missions with clear, achievable goals, not ones we’ll never reach. And second, we must stay clearly focused on the fundamental national security interest of the United States of America.”

Hier ist eine wesentliche Missionsinterpretation heraus­lesbar. Wir müssen – wie bereits erwähnt – Missionen mit klaren und erreichbaren Zielen versehen.

This decision about Afghanistan is not just about Afghanistan. It’s about ending an era of major military operations to remake other countries.“
Joe Biden, 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika

Und weiter: „We saw a mission of counterterrorism in Afghanistan, getting the terrorists to stop the attacks, morph into a counterinsurgency, nation building, trying to create a democratic, cohesive and united Afghanistan. Something that has never been done over many centuries of Afghan’s history. Moving on from that mindset and those kind of large-scale troop deployments will make us stronger and more effective and safer at home.“ Es folgte das vielzitierte: “We will not forgive/forget and hunt you down.”

In diesem Abschnitt spricht er klar von einem gescheiterten Versuch der Integration westlicher Wertevorstellungen und demokratischer Strukturen in einem kulturell und religiös vollkommen anders gearteten Land.

Diese politischen Schlüsse dürfen die USA für sich ziehen. Auch andere beteiligte Nationen können in ihrer Einsatzanalyse zu derartigen Schlüssen kommen. Doch was sich für uns in Deutschland am deutlichsten zeigt ist ein Problem der Vermittlung dieses mandatierten Einsatzes, in dem die Bundeswehr Krieg führen musste.

Erhoffte Konsequenzen für Deutschland

Wenig zielführend sind in diesem Zusammenhang Schuld­zuweisungen, politische Rhetorik oder das Aufsatteln von Interessengruppierungen auf einen fahrenden Zug, indem man versucht, die schrecklichen Schäden an der afghanischen Zivilbevölkerung und dem abermals zerbombten Land für die jeweiligen Zwecke zu nutzen. Was zählt sind zweierlei Dinge, die nun in der Konsequenz erfolgen müssen: Der Einsatz deutscher Soldaten am Hindukusch muss aufgearbeitet werden – sowohl politisch als auch militärisch. Denn die Erkenntnisse dieser Mission können das Leben von deutschen Soldatinnen und Soldaten schützen. Zweite erhoffte Konsequenz sollte in der Zukunft eine „klarere Kante derer sein“, die Einsätze der Bundeswehr mandatieren. Wenn der Deutsche Bundestag deutsche Kräfte entsendet, dann muss er sich auch immer wieder klar und deutlich zu ihnen bekennen. Und dieses Bekenntnis geht immer einher mit einem klaren Auftrag des Schutzes unserer Soldatinnen und Soldaten.

Kein kollektives Scheitern, aber eine Lehre

Der bereits erwähnte Artikel auf der Seite Bundeswehr.de kommt kurz vor Ende des Artikels zum ISAF-Einsatz zu folgender abschließender Würdigung: „Für Deutschland bedeutete dies aber noch mehr: die Beteiligung an der Stabilisierungsmission am Hindukusch gab Anstoß für den grundlegenden Wandel der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Einsatzarmee.“

Afghanistan war daher kein kollektives Scheitern. Und doch muss es eine Lehre sein, denn nur so lassen sich gleiche Bilder in Zukunft unbedingt vermeiden.

Kommentar: Autorenteam CPM

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