Interview mit Philip Krämer

„Die internationale Gemeinschaft ist in eine Black Box hineingegangen: Wir haben das Land nicht verstanden“, sagt Philip Krämer, mdB, im Interview mit Rainer Krug, Chefredakteur von cpmFORUM. Der Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen ist Vorsitzender der Projektgruppe 3 der Enquete „Lehren aus Afghanistan“. Die Kommission soll Lehren aus dem deutschen Engagement in Afghanistan für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik ziehen. „Wir haben sehr viel an der Situation in den Städten festgemacht, aber eigentlich wussten wir nicht ausreichend, was in diesem riesigen Land passiert und welche Entscheidungsstrukturen und Kultur, vor allem auf dem Land, vorherrschten.“

Philip Krämer. Foto: Grüne im Bundestag / S. Kaminski
MdB Philip Krämer im Gespräch.
Foto: Grüne im Bundestag / S. Kaminski
Herr Abgeordneter, als Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages arbeiten Sie mit an der politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung des 20-jährigen Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Was konkret ist die Enquete-Kommission und wie lautet ihr genauer Auftrag?

Der zwanzigjährige Einsatz in Afghanistan war bisher der intensivste Auslandseinsatz für die Bundeswehr und die beteiligten Zivilorganisationen. Der überstürzte Abzug der deutschen und internationalen Truppen aus dem Land und die Machtübernahme der Taliban 2021 symbolisieren das Scheitern des Engagements auf tragische Art und Weise. Der Deutsche Bundestag hat aus diesem Grund im Sommer 2022 eine Enquete-Kommission eingesetzt und diese mit der umfangreichen und herausfordernden Aufgabe betraut, Lehren aus dem deutschen Engagement in Afghanistan für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen.

Zum einen geht es für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen um eine ergebnisoffene und selbstkritische Bilanzierung des Gesamteinsatzes von 2001 bis 2021 aus parlamentarischer Sicht. Zum anderen geht es uns um künftige Stabilisierungspolitik in Konflikt- und Krisenregionen, also um institutionelles Lernen, um politische Lehren und Empfehlungen an den Bundestag und die Bundesregierung aus dem Afghanistan-Einsatz für den vernetzten Ansatz beziehungsweise heute integrierten Sicherheitsbegriff.

Die Arbeit der Kommission ist auf zwei Jahre angelegt und in zwei Projektphasen aufgeteilt. In der aktuell laufenden ersten Projektphase untersucht das Gremium aus zwölf Abgeordneten und zwölf Sachverständigen den gesamten Zeitraum des deutschen Engagements in Afghanistan von 2001 bis 2021.

Dazu wurden in der Enquete-Kommission drei Projektgruppen gebildet, die sich schwerpunktmäßig mit den Themen Sicherheit und militärische Stabilisierung, ziviler Aufbau und Friedensförderung sowie Staats- und Regierungsaufbau beschäftigen. Der Fokus unserer Arbeit liegt auf dem deutschen Engagement. Angesichts des starken Multilateralismus berücksichtigen wir aber auch die internationale Einbettung, soweit das möglich ist.

In der Projektgruppe zu Staats- und Regierungsaufbau habe ich den Vorsitz übernommen. Einen zentralen Aspekt in dieser Gruppe stellt die Herausarbeitung und Bewertung der deutschen Führungsrolle bei der Unterstützung des Aufbaus der afghanischen Polizei dar. Außerdem verknüpfen wir hier unsere Arbeit mit den anderen Projektgruppen, beispielsweise bei der Untersuchung des Aufbaus der afghanischen Armee.

Die Arbeit der Projektgruppen wird durch öffentliche Anhörungen ergänzt, durch welche die Gesamt-Enquete mithilfe von Expertinnen und Experten sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus dem gesamten ressortübergreifenden und auch internationalen Kontext (Politik, Ressorts, Durchführungsorganisationen, NGO’s, afghanische Zivilgesellschaft) ein Gesamtbild des deutschen Engagements in Afghanistan über die 20 Jahre erhält.

Die erste Projektphase der Enquete-Kommission und die Arbeit der drei Projektgruppen sollen bis Ende 2023 beendet werden. In der darauffolgenden zweiten Phase soll die Enquete-Kommission dem Bundestag spätestens bis Ende 2024 Vorschläge und Handlungsempfehlungen für laufendes und zukünftiges internationales Krisenmanagement vorlegen.

Die Kommission arbeitet nun schon etwa ein Jahr an der Bilanzierung des Afghanistaneinsatzes. Zu welchen Schlüssen kommen Sie mit der Enquete-Kommission bisher?

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich in der Kommission von Beginn an dafür eingesetzt, dass die afghanische Perspektive, besonders auch die Rolle von Frauen, und die politisch-strategische Führungsebene in der Aufarbeitung mit bedacht werden. Wir haben uns deswegen im letzten Jahr dafür stark gemacht und sehr begrüßt, dass eine öffentliche Anhörung sowohl zum zivilgesellschaftlichen und afghanischen Schicksal als auch zu den politischen Verantwortungsstrukturen und der Rolle von Bundesregierung und Kanzleramt in der Kommission stattgefunden hat.

Für eine konkrete Bewertung muss die Veröffentlichung des Zwischenberichts abgewartet werden. In den öffentlichen Anhörungen haben sich aber einige Erkenntnisse verdichtet.

Die internationale Gemeinschaft ist in eine Black Box hineingegangen: Wir haben das Land nicht verstanden. Wir haben sehr viel an der Situation in den Städten festgemacht, aber eigentlich wussten wir nicht ausreichend, was in diesem riesigen Land passiert und welche Entscheidungsstrukturen und Kultur, vor allem auf dem Land, vorherrschten. Zusätzlich wurde die Zivilgesellschaft zu wenig einbezogen und die Taliban dauerhaft von Friedensverhandlungen ausgeschlossen, was von einigen Expertinnen und Experten als Kardinalfehler bezeichnet wird.

Außerdem bestand durchgängig ein politisch-strategischer Dissens (insbesondere mit den USA), gerade zwischen militärischer Terrorbekämpfung auf der einen und einem Stabilisierungsansatz auf der anderen Seite. Der Einsatz ist also überwiegend auf der politisch-strategischen Ebene gescheitert.

Ziel des Einsatzes der Nationalen Unterstützungsgruppe (International Security Assistance Force: ISAF) – wenn man es so global ausdrücken darf – war die Herstellung der Sicherheit im Land und die Institutionalisierung demokratischer Strukturen. Wir haben erlebt, dass das so nicht möglich war. Aus Ihrer Sicht: Was hätte wann und bei wem anders laufen müssen, um die Ziele eher zu erreichen?

Die Konferenz auf dem Petersberg in Bonn im Jahr 2001 hat einen vielversprechenden Grundstein gelegt, um Sicherheit in Afghanistan herzustellen und demokratische Strukturen im Land zu institutionalisieren. Dieses „Window of Opportunity“ für einen erfolgreichen Einsatz war meiner Ansicht nach allerdings begrenzt. Durch die Fokussierung der USA auf den Irak wurde der Einsatz am Hindukusch von amerikanischer Seite heruntergestuft und die Sicherheitslage wiederum verschlechterte sich infolgedessen.

Da sich der internationale ISAF-Einsatz zunächst auf Kabul und Umgebung beschränkte, wurden ab 2003 militärisch-zivile Wiederaufbau-Teams (Provincial Reconstruction Teams: PRT) zur Schaffung von Sicherheit und Stabilität in ausgewählten Provinzen Afghanistans errichtet. Deutschland war nach den USA und Großbritannien die dritte Nation, die ein solches PRT übernahm (PRT-Kunduz im Oktober 2003).

Ein Problem dieses PRT-Konzepts war die unterschiedliche Qualität und Ausrüstung der Wiederaufbau-Teams in den verschiedenen Provinzen. Somit war es schwierig, flächendeckende Fortschritte zu erzielen.

Militär allein – ich denke das ist eine Binse – kann derartige Einsätze nicht allein tragen. Wie erwähnt geht es um entwicklungspolitische Ziele und gesamtstaatlichen Einsatz. Hat aus Ihrer Sicht eine ausreichende politische Unterstützung der militärischen Kräfte stattgefunden? Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang zum Beispiel den Einsatz der Polizeikräfte oder auch aus der Entwicklungspolitik – dies sind beides Aufgaben, die Streitkräfte nicht leisten können?

Die deutsche Bundesregierung und der Bundestag haben den Ansatz eines militärisch gestützten Staats- und Regierungsaufbaus mehrheitlich von Anfang an unterstützt. Mit dem entwicklungspolitischen Einsatz in Afghanistan beschäftigt sich schwerpunktmäßig die Projektgruppe „Ziviler Aufbau und Friedensförderung“ in der Kommission. Zur Reform des Sicherheitssektors in Afghanistan führte die internationale Gemeinschaft 2002 das Lead-Nations-Konzept mit fünf Säulen ein.

Neben den USA (Wiederaufbau der afghanischen Armee), Großbritannien (Drogenbekämpfung), Japan (Entwaffnung und Reintegration ehemaliger Kämpfer) und Italien (Justizaufbau), übernahm Deutschland die koordinative Führungsrolle beim Polizeiaufbau. Die Projektgruppe „Staats- und Regierungsaufbau“ behandelt aus diesem Grund die deutsche Unterstützung beim Polizeiaufbau ausführlich und wird diesen im Zwischenbericht zentral bewerten.

Wie sehen Sie die Zieldefinition z. B. des ISAF-Einsatzes; hätten unsere nationalen Ziele – die Ziele Deutschlands – noch konkreter definiert werden müssen?

Während der öffentlichen Anhörungen wurde deutlich, dass die Bundeswehr unvorbereitet und unzulänglich ausgerüstet nach Afghanistan geschickt wurde. Die am Einsatz der ISAF beteiligten deutschen Soldatinnen und Soldaten hatten nur eine knappe Vorbereitungszeit und sind in Afghanistan auf eine sehr undurchsichtige Lage getroffen.

Zukünftig muss der Bundestag umfassendere und konkretere Mandate für Auslandseinsätze verabschieden, um den beteiligten Akteuren einen klaren Auftrag mit auf den Weg zu geben.

Zur Rolle und den Möglichkeiten der Bundeswehr: Hatten wir zu jeder Zeit die notwendige politische Rückendeckung für unseren Einsatz und haben die Rules of Engagement ausgereicht, um einen Einsatz erfolgreich führen zu können?

Wir, als Enquete-Kommission, stehen in der Verantwortung, die begangenen Fehler während des Einsatzes klar zu benennen, aber auch die erzielten Erfolge herauszustellen und den beteiligten Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilorganisationen für ihr Engagement zu danken und ihre Arbeit wertzuschätzen.

Im Zuge dessen besuchte die Projektgruppe zu Sicherheit und militärische Stabilisierung im vergangenen Juni das Einsatzführungskommando der Bundeswehr. Neben einem inhaltlichen Briefing profitierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch von einer eindringlichen Führung durch den „Wald der Erinnerung“ in Potsdam.

Diese Erfahrung hat die Enquete-Kommission als Ganze nochmal in ihrer Aufgabe sensibilisiert, den Einsatz besonders auch für die Einsatzkräfte (zivil und militärisch) und ihre Angehörigen aufzuarbeiten, welche die immateriellen Kosten des Einsatzes getragen haben. Ein Teil hat den Einsatz mit dem Leben bezahlt, ein anderer Teil leidet noch heute unter körperlichen oder seelischen Verwundungen. Hier geht es zukünftig auch um eine bessere Nachsorge für Kriegs veteranen. All diese Betroffenen erwarten, dass wir als Enquete aus den Erfahrungen in Afghanistan lernen.

Aus diesem Grund unterstützt unsere Fraktion auch die Planung einer Veranstaltung der Gesamt-Enquete mit zivilen und militärischen Einsatzkräften auf Ebene der Mannschaftsdienstgrade, die in Afghanistan vollen Einsatz am Boden geleistet haben. Ihre Perspektive ist aus unserer Sicht in der Kommission bisher zu kurz gekommen, aber für eine umfassende und selbstkritische Bewertung, auch der mit auf den Weg gegebenen Rules of Engagement, von enormer Wichtigkeit.

Es gibt einige, die sagen, dass der vernetzte Ansatz gescheitert sei und dass es deswegen gerade zum Ende des Einsatzes zu kritischen Situationen wie dem fluchtartigen Verlassen der Botschaft gekommen sei. Wie sehen Sie die Bedeutung des vernetzten Ansatzes?

In der zweiten Phase muss auch der vernetzte Ansatz genauer unter die Lupe genommen werden. Er beschreibt in der Sicherheitspolitik die Verzahnung militärischer, polizeilicher, diplomatischer, entwicklungspolitischer und humanitärer Instrumente bei Einsätzen im Rahmen internationaler Friedensmissionen. Die Kommission soll Vorschläge machen, wie das Zusammenspiel von militärischen und zivilen Maßnahmen im internationalen Krisenmanagement aussehen müsste, um erfolgreich zu sein und wie in diesem Zusammenhang zukünftig klare und umsetzbare Mandate für die Bundeswehr und andere beteiligte Akteure verabschiedet werden können.

Aus meiner Sicht ist neben der Erhöhung der Wertschätzung von Soldatinnen und Soldaten in der Gesellschaft auch ein besseres Verständnis der Lage und der Einsatzrealitäten vor Ort bei Auslandseinsätzen notwendig. Dabei sollten die politische Strategie und das deutsche Interesse den Einsatzkräften und der Öffentlichkeit transparent gemacht werden.

Für unsere Fraktion stehen dabei auch das Thema „Parlamentsarmee“ und eine bessere Begleitung der Einsätze durch die Abgeordneten im Vordergrund. Die parlamentarischen Kontroll- und Mitbestimmungsmöglichkeiten müssen bei Einsätzen der Bundeswehr im Ausland gestärkt werden.

Eine letzte Frage: Welche Auswirkungen hatte aus Ihrer Sicht und der Sicht der Kommission der weitgehend unabgestimmte und plötzliche Abzug der US-Truppen? Was können wir zum Beispiel für den Mali Einsatz daraus lernen?

Der plötzliche Abzug der USA auf Grundlage der vorherigen Verhandlungen mit den Taliban war ein Debakel und hat auch den Abzug der deutschen Streitkräfte verkompliziert. Darum sollte grundsätzlich eine Exit-Strategie für zukünftige Bundeswehr-Engagements erstellt werden.

Ein geordneter Abzug bedeutet für mich auch, dass wir unsere Partnerinnen und Partner vor Ort mitdenken. Wir müssen uns fragen, welche Einschränkungen auf die Hilfs- und Entwicklungsorganisationen vor Ort zukommen und wie wir sie unterstützen können und müssen.

Auch in Mali waren wir nicht auf die sich verschlechternden Rahmenbedingungen vorbereitet. Trotz des ungewollten Endes erfolgt der Abzug in Mali nun aber sicher und geordnet. Die Sicherheit der noch dort verbliebenen Soldatinnen und Soldaten hat dabei höchste Priorität und sollte das auch in zukünftigen Einsätzen haben.

Herr Abgeordneter, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen und der Kommission auch im nächsten Jahr viel Erfolg.

Ich bedanke mich auch sehr herzlich für das Gespräch. Gerne nehme ich insbesondere für die zweite Phase Anregungen, Kritik und Wünsche auf. Kontaktieren Sie mich gerne, sodass die Enquete-Kommission ihrem Auftrag, einer Verzahnung mit der Bevölkerung, gerecht werden kann.

Das Interview führte Rainer Krug

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