Im Interview mit cpm spricht Generalleutnant Bernd Schütt über die Veränderungen des ihm unterstellten Einsatzführungskommando der Bundeswehr. Welche neuen Aufgaben sind seid dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung hinzugekommen und was hat sich verändert? Der Generalleutnant spricht unter anderem über NATO Force Models (NFM), die zukünftige LV/BV angesichts der Bedrohung an der Ostflanke und über Evakuierungmissionen im Ausland.
(Dieses Interview erschien zuerst im cpmFORUM 5/23)
Herr Generalleutnant Bernd Schütt, seit Februar 2022 gibt es an der Ostflanke der NATO einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Welche Veränderungen haben sich dadurch in den Aufgaben des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr ergeben?
Der 24. Februar letzten Jahres war nicht nur für den Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, ein Weckruf, sondern auch für mich. Denn plötzlich waren wir in unseren vier Aufgabenfeldern parallel umfassend gefordert. Es galt quasi über Nacht im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) unverzüglich die NATO-Ostflanke signifikant zu verstärken (EFP, EVA, VJTF (M)).
Im Bereich des nationalen Risiko- und Krisenmanagements waren sogenannte Krisenunterstützungsteams an deutsche Auslandsvertretungen in mehrere osteuropäische Staaten zu entsenden, um bei Bedarf deutsche Staatsangehörige evakuieren zu können, inkl. eines möglichen Einsatzes unserer Spezialkräfte. Gleichzeitig hatten wir die laufenden Einsätze im Rahmen des Internationalen Krisenmanagements (IKM), u. a. MINUSMA in Mali, Counter-Daesh/Capacitiy Building Iraq oder auch UNIFIL vor der Küste des Libanon, fortzusetzen und unverändert in allen nationalen Belangen zu führen.
Dabei ist vor allem die Gleichzeitigkeit dieser Aufgaben hervorzuheben. Dies ist seit Februar 2022 sowohl die zentrale Herausforderung für das Einsatzführungskommando der Bundeswehr als auch für die Truppe und die Bundeswehr insgesamt. In der Konsequenz dieser Ereignisse habe ich eine Bestandsaufnahme der strukturellen Verfasstheit des Kommandos angewiesen mit der Zielsetzung, unsere Reaktionsfähigkeit zu erhöhen, die Resilienz zu stärken sowie unsere Relevanz national wie international zu erhalten.
Im Kern ging es darum, das bisher auf das Internationale Krisenmanagement und Nationale Risikomanagement optimierte Kommando rasch und deutlich verstärkt auf die wiedergekehrte Herausforderung der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) auszurichten. Im Ergebnis haben wir dazu unsere Kernaufgabe, die nationale Einsatz- und Operationsführung, unter anderem durch die Umbesetzung von ca. 70 Dienstposten, vorrangig Stabsoffizieren, deutlich gestärkt. Diese begonnene Neuausrichtung des Kommandos werden wir in 2024 weiter verstetigen und auch auf den Bereich der Spezialkräfte der Bundeswehr ausweiten.
Das Einsatzführungskommando ist an 365 Tagen im Jahr Ansprechstelle für die Joint Force Commands, also die operativen Kommandos der NATO und damit erster Ansprechpartner in der Bundeswehr zu allen Fragen der NATO-Verteidigungsplanung.
Dimensionskommandos werden in einem Landes- und Bündnisverteidigungsszenario weiterhin als Truppensteller agieren. Welche Vorbereitungs- und Planungsaufgaben sind im Rahmen der Reorientierung auf Landes- und Bündnisverteidigung auf Ihr Kommando zugekommen? Wie sieht Ihre Aufgabe im Zusammenspiel mit der NATO-Verteidigungsplanung in LV/BV aus, Herr Generalleutnant Bernd Schütt?
Das Einsatzführungskommando ist an 365 Tagen im Jahr Ansprechstelle für die Joint Force Commands, also die operativen Kommandos der NATO und damit erster Ansprechpartner in der Bundeswehr zu allen Fragen der NATO-Verteidigungsplanung. In diesem Rahmen begleiten wir eng die Ausarbeitung der Verteidigungspläne auf operativer Ebene, werten diese aus und bringen dabei nationale Positionen in den Planungsprozess ein.
Vor dem Hintergrund meiner mehr als 40-jährigen Dienstzeit, inklusive Verwendungen bei der NATO, stelle ich seit Februar 2022 fest, dass sich unsere Planungsaufgaben derzeit äußerst dynamisch entwickeln und innerhalb der NATO derzeit mit einem noch nie da gewesenen Tempo vorangetrieben werden.
Für den Fall der Auslösung der NATO-Verteidigungspläne würde mein Kommando – wie im Übrigen auch schon in diesem Jahr für den deutschen Anteil der NATO Response Force 2023 – die nationale Führungsverantwortung aller der NATO unterstellten deutschen Kräfte wahrnehmen. In einem solchen Szenario hätten wir u.a. die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der deutschen Truppe im Ausland, z. B. mit ausreichend Munition oder auch Ersatzteilen, sicherzustellen, damit diese ihre Aufgaben im Rahmen der NATO-Pläne erfüllen kann.
Für den Bereich der Spezialkräfte – als eigener „funktionaler“ Dimension – stellen wir bereits in diesem Jahr den Kern eines Führungselementes in Form eines Special Operations Component Commands (SOCC), dessen Aufgabe die Führung von NATO-Spezialkräfteverbänden auf operativer Ebene ist. Die Aufwuchsfähigkeit dieses Führungselementes werden wir über 2023 hinaus verstetigen.
Das NATO New Force Model ist das NATO-Konzept, um den zukünftigen Herausforderungen bei LV/BV zu begegnen. Können Sie uns kurz einen Überblick über die Festlegungen im New Force Model geben und aufzeigen, wie die Auswirkungen auf die Einsatzplanungen für die Bundeswehr sind?
Die Entwicklung des NATO Force Models (NFM) ist ein Ergebnis des NATO-Gipfels von Madrid aus dem Jahr 2022. Vereinfacht ausgedrückt umfasst das NFM die Bereitstellung einsatzbereiter Kräfte mit abgestuften Bereitschaftszeiten in vorab zugewiesenen geographischen Einsatzräumen. Diese Regionalisierung der Verteidigungsplanung geht mit dem bereits länger andauernden Anpassungsprozess der NATO- Streitkräftestruktur einher und soll vor dem Hintergrund der andauernden russischen Aggression die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit entlang der Ostflanke des Bündnisgebiets erhöhen. Damit erfüllt das NFM zunächst militärische Notwendigkeiten.
Zeitgleich ist es ein starkes und sichtbares Zeichen des politischen Willens der NATO-Mitgliedsstaaten zur gemeinsamen Verteidigung des Bündnisgebiets. Die Nationen verpflichten sich zu konkreten Kräftebeiträgen, welche dem Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) Planungssicherheit und Transparenz bzgl. der ihm zur Verfügung stehenden Kräfte geben und damit seine Fähigkeit erhöhen, auf alle Eventualitäten schnell und entschlossen reagieren zu können.
Welche Auswirkungen hat das auf die Einsatzplanungen für die Bundeswehr?
Für die Bundeswehr bedeutet dies, dass ein großer Anteil der Streitkräfte bereits jetzt in Planung und Übung im Rahmen der LV/BV gebunden ist. Damit befindet sich die Bundeswehr in einem Wandel – vom sogenannten IKM-Denken, also der Bereitstellung von Kräften für Einsätze im Rahmen von vorgeplanten, für den konkreten Einsatz zusammengestellten Kontingenten, hin zur „Kaltstartfähigkeit“ der Verbände und Großverbände für die LV/BV. Der Begriff Zeitenwende findet hier völlig zu Recht Anwendung. Deutschland wird als Führungsnation an der Einhaltung der gegenüber der NATO eingegangenen Verpflichtungen gemessen. Dazu zählt beispielsweise auch, dass wir nach den USA zweitgrößter Truppensteller von Spezialkräften innerhalb des Bündnisses sind.
Die Herausforderung dabei liegt – wie bereits erwähnt – in der Gleichzeitigkeit der Aufgaben von IKM und LV/BV. Konkret heißt das, dass wir, wenn gefordert, neben unserem zukünftig deutlich erhöhten Engagement an der NATO-Ostflanke, unverändert personell wie materiell in der Lage sein müssen, Einsätze im Rahmen des IKM zu alimentieren oder wie im April diesen Jahres aus dem Stand heraus Evakuierungsoperationen zum Wohle deutscher Staatsangehöriger im Ausland durchführen zu können.
Die Vielzahl alternativer Szenare umfasst zum Beispiel auch hybride Elemente der Kriegsführung oder terroristische Bedrohungen.
In Zeiten des sogenannten Kalten Krieges war Landesverteidigung sehr stark mit dem GDP, einer bis ins Detail gehenden Operationsplanung, verbunden. Wenn wir das Szenar Ostflanke oder Enhanced Forward Presence (EFP) betrachten, wie konkret bekommen Verbände im Rahmen einer vorbereiteten Planung Einsatzräume zugewiesen?
Aufgrund der geheimen Einstufung der Pläne kann ich hier natürlich nicht ins Detail gehen. Allgemein ist festzuhalten, dass die Verteidigungspläne sehr detaillierte Vorgaben dahingehend machen, wer im Krisenfall was und wo zu tun hat. Dies bedeutet auch, dass wir und unsere Alliierten im Frieden so ausbilden und üben, dass die NATO im Ernstfall unverzüglich das Bündnisgebiet auf der Grundlage der entsprechenden Pläne verteidigen kann. Sie können die heutigen Verteidigungspläne bis zu einem gewissen Grade mit dem früheren GDP vergleichen. Der maßgebliche Unterschied ist jedoch, dass wir uns trotz detaillierter Planung und Übung Flexibilität erhalten. Dies ist entscheidend, denn die NATO orientiert sich nicht allein an einem möglichen, großangelegten Angriff Russlands, sondern reflektiert Handlungsoptionen unter Berücksichtigung aktueller und zukünftiger Bedrohungslagen. Die Vielzahl alternativer Szenare umfasst zum Beispiel auch hybride Elemente der Kriegsführung oder terroristische Bedrohungen. Ich sehe uns mit diesen Plänen flexibel aufgestellt und für die Zukunft gut gerüstet!
Internationales Krisenmanagement tritt zwar zukünftig in den Hintergrund, bleibt aber als Aufgabe für die Bundeswehr bestehen. Führt dies zu Veränderungen im Einsatzführungskommando? Welche Erfahrungen haben Sie, Herr Generalleutnant Bernd Schütt, mit z. B. den „aktuellen“ Evak-Ops in Afghanistan (Kabul) und Sudan gewonnen?
Das Einsatzführungskommando wird auch nach dem Ende des deutschen Einsatzes in Mali weiterhin Einsätze im Rahmen des IKM führen. Zu nennen sind hier u.a. die Beteiligungen an den Beobachtermissionen der Vereinten Nationen, unser Engagement auf dem Balkan und im Nahen Osten. Übrigens hat die Evakuierungsoperation Sudan gezeigt, welchen Wert eine „Vorne-Präsenz“ in der Nähe von Krisenregionen haben kann: So wurde unter anderem von der Luftwaffenbasis Al-Azraqin Jordanien aus, wo unser Counter-Daesh-Einsatzkontingent stationiert ist, die Evakuierung aus dem Sudan erfolgreich taktisch geführt und logistisch unterstützt.
Um den bestehenden und den erweiterten Forderungen gerecht zu werden, haben wir innerhalb der Abteilung J3/5 (Operationsplanung und -führung) mit dem Aufbau von zwei entsprechenden Unterabteilungen IKM und LV/BV und der erwähnten Umbesetzung von ca. 70 Dienstposten organisatorische Anpassungen vorgenommen. Unter der Führung eines Brigadegenerals sind beide Unterabteilungen flexibel in der Lage, in ihrem jeweiligen Aufgabenfeld Schwerpunkte zu setzen und bei Bedarf eine zusätzliche Operationszentrale zur Führung der jeweils unterstellten Kräfte zu betreiben.
Die Evakuierungsoperation Sudan erfolgte kurz nach der Umgliederung des Kommandos. Sie war quasi „Feuertaufe“ und Nachweis dafür, dass die neuen Strukturen im Einsatzführungskommando den bereits skizzierten Anforderungen entsprechen. Unsere Regelungen, Verfahren, Ausbildung und die dazugehörigen Übungen – dazu zähle ich sowohl Stabsübungen, Übungen mit Truppe als auch Übungen der Spezialkräfte – haben sich bewährt und uns gut auf unterschiedlichste Situationen vorbereitet. Hier lassen wir auf keinen Fall nach!
Durchsetzungsfähige und durchhaltefähige Operationen lassen sich nur mit gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten Truppen durchführen. Welchen Einfluss haben Sie oder werden Sie zukünftig auf Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte haben?
Ein wesentlicher Motor der Weiterentwicklung von Streitkräften sind die Einsätze und Operationen – sie markieren das „scharfe Ende“ unseres Auftrags. An ihm richten sich Ausbildung und Ausrüstung aus, denn hiervon hängen die erfolgreiche Auftragserfüllung, aber eben auch das Leben unserer Frauen und Männer ab!
Vor diesem Hintergrund ist – neben der Planung und Führung von Einsätzen – der dritte Auftrag des Einsatzführungskommandos die Einsatzauswertung, durch die wertvolle Erkenntnisse für zukünftiges militärisches Handeln gewonnen werden. Die systematische und zielgerichtete Einsatzauswertung im Sinne von Lessons Identified/Lessons Learned ist und bleibt Motor für Innovation und Verbesserung.
Was die Bereitstellung gut ausgebildeter und ausgerüsteter Kräfte angeht, arbeiten wir eng mit den truppenstellenden Organisationsbereichen zusammen und stimmen uns eng mit diesen ab. Welche Fähigkeiten wir für bestimmte Einsätze konkret benötigen, legen wir mit sogenannten „operativen Fähigkeitsforderungen“ fest. Die dort festgehaltenen Anforderungen an die Truppe werden mit den Organisationsbereichen vorabgestimmt und helfen diesen, ihre Einsatzvorbereitung auf die Erfordernisse des Auftrags auszurichten.
Ein „Sonderfall“ sind auch hier die Spezialkräfte. Im Einsatzführungskommando verantwortet meine Abteilung „Spezialoperationen“ zentral die Zukunfts- und Fähigkeitsentwicklung der Spezialkräfte der Bundeswehr und nimmt damit auch unmittelbar Einfluss auf die Ausrüstung dieser Kräfte. Dies geschieht unter der Prämisse einer flexiblen und schnellen Umsetzung von Beschaffungsbedarfen.
Nimmt man alles zusammen, die Einsatzauswertung, die Fähigkeitsforderungen als Vorgabe für die Bereitstellung von Truppe sowie die Aufgabe hinsichtlich der Spezialkräfte der Bundeswehr, wird die Rolle des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung von Ausrüstung und Beschaffung für die Streitkräfte insgesamt deutlich. Dabei orientieren wir uns immer am konkreten Einsatzbedarf, um die Durchhalte- und Durchsetzungsfähigkeit der Truppe zu gewährleisten.
Herr Generalleutnant Bernd Schütt, wir danken für das Interview und wünschen Ihnen für alle Aufgaben Erfolg und Soldatenglück.