Industrielle Unterstützung der Verteidigung in den letzten 70 Jahren

Zum 70-jährigen Bestehen der Bundeswehr blickt Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des BDSV, auf sieben Jahrzehnte industrieller Unterstützung deutscher Streitkräfte zurück. Im Interview spricht er über Zeiten von „viel Zeit und wenig Geld“, über Fehlentwicklungen und Lernerfahrungen in der Beschaffung, den tiefen Einschnitt der Zeitenwende – und darüber, warum Planbarkeit, Bürokratieabbau und ein schneller Wiederaufwuchs der Industrie entscheidend für Abschreckungsfähigkeit und Resilienz bis 2029 sind. Das Interview führte Rainer Krug.

Fordert mehr Mittel: Dr. Hans Christoph Atzpodien spricht als Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV) spricht auf der Rü.Net.
Dr. Hans Christoph Atzpodien spricht als Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV) spricht auf der Rü.Net.
Foto: CPM
Herr Dr. Atzpodien, in diesen Tagen wird die Bundeswehr 70 Jahre alt. Wenn Sie zurückblicken, wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Rüstungsindustrie und Bundeswehr über diesen Zeitraum hinweg?

Vielleicht darf ich mit einer persönlichen Anmerkung beginnen: Zwar gehöre ich demselben „guten“ Jahrgang an wie unsere Bundeswehr, unser Bundeskanzler und Papst Leo XIV.; mit der rüstungsindustriellen Ausstattung der Bundeswehr jedoch bin ich erstmals 2007 in Berührung gekommen, als ich CEO von thyssenkrupp Marine Systems tkMS wurde.

Die Endverhandlung des Vertrages über das F125-Fregattenprogramm, die ich nur wenige Tage nach meinem Amtsantritt bei tkMS als Konsortialführer zusammen mit Friedrich Lürßen beim damaligen Hauptabteilungsleiter Rüstung im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) führen durfte und musste, ist mir daher in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. Ein „Altvorderer“ der Branche hatte mir vorher mitgegeben, im Bereich der Rüstung gelte zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer das Prinzip „Leben und leben lassen“.

Die damalige Erstlingserfahrung aber war für mich, der ich zuvor mit harten Bandagen im internationalen Großanlagenbau um Aufträge gekämpft hatte, ganz anders: Es standen sich professionell agierende Einkäufer und Verkäufer gegenüber, die sich in einer solchen Endverhandlung nichts geschenkt haben. Dabei gab es im Bereich der Bundeswehr-Beschaffung natürlich Besonderheiten, wie die „Leitplanken“ des Vergabe- und Haushaltsrechts, umfangreiche Bau- und Abnahmevorschriften, das öffentliche Preisrecht und – wie anderenorts auch – einen sehr anspruchsvollen Nutzer.

Was damals sicherlich anders war als heute – und darüber ist gerade in den letzten drei Jahren viel gesprochen und geschrieben worden – ist das Verhältnis von Geld und Zeit. Während früher die Mittel für neue Programme, etwa für die Marine, über Jahre hart erkämpft werden mussten, sieht dies heute aus bekannten Gründen anders aus. Dafür wurde früher, wenn ein Programm genehmigt war, sehr viel, bisweilen auch zu viel Herzblut von Seiten des Beschaffers in die „alles könnende“ Ausgestaltung der Geräte gelegt, während dazu heute schlicht keine Zeit vorhanden ist.

Dabei sind in früheren Zeiten trotzdem – oder auch deswegen – teils sehr gute Produkte entstanden, die sich mit Hilfe der Bundeswehr als „launching Customer“ weltweit hervorragend verkauft haben, so z. B. Produkte der deutschen Panzer- oder Uboot-Fertigung. Auf der anderen Seite sind aber teils auch Goldrand-„Sonderlocken“ für die Bundeswehr entstanden, die sich nur schwer oder gar nicht für den Export geeignet haben, wie z.B. die deutschen Korvetten. Hier liegt nun, bedingt durch die dramatisch veränderte geopolitische Lage, sicher der signifikanteste Unterschied zwischen heute und der Zeit bis 2022.

Welche Veränderungen haben sich durch die Entspannungspolitik industriell in diesem Zeitraum ergeben, welche Auswirkungen hatten Sie aus Ihrer Sicht auf Material und Ausrüstung der Streitkräfte?

Ich komme hier nochmals darauf zurück, dass man die seinerzeitige Lage auf die Formel „viel Zeit und wenig Geld“ reduzieren kann. Viel Zeit bedeutete eben auch, dass man auf der Beschaffungsseite viel Zeit für das Einbringen immer neuer Design-Iterationen hatte, die auch nach dem eigentlichen Vertragsschluss keineswegs aufhörten.

Der Brückenlegepanzer BIBER auf Fahrgestell LEOPARD 1 – ein fester Bestandteil für die Aufgaben der Pioniertruppe. Foto: Bundeswehr
Der Brückenlegepanzer BIBER auf Fahrgestell LEOPARD 1 – ein fester Bestandteil für die Aufgaben der Pioniertruppe.
Foto: Bundeswehr

Dies trieb Auftraggeber und Auftragnehmer unversehens in eine Spirale immer neuer Kosten, aber auch Projektrisiken. Ich erinnere mich noch gut an den vor meiner tkMS-Zeit geschlossenen Vertrag über die Korvetten des 1. Loses der K130-Klasse, die nach Vertragsschluss durch immer neue Perfektionierungsideen so an Design-Gewicht zulegten, dass selbst Rumpfvergrößerungen keine Abhilfe mehr schaffen konnten.

Als Ausweg wurde dann eigens für diesen Schiffstyp ein leichteres Getriebe konstruiert, welches sich nach Indienststellung des ersten Schiffes als mangelhaft erwies und bei allen Schiffen ausgetauscht werden musste. Ich weiß noch gut, welche „Prügel“ ich mir dafür in Koblenz abholen musste, aber auch daran, welche Vorwürfe ich mir im Konzern wegen der unglaublich hohen Verluste aufgrund einer vierjährigen Ablieferungsverzögerung anhören durfte.

Was ich damit sagen will: Die Fokussierung auf Bewährtes nützt bei der Realisierung komplexer Großvorhaben beiden Seiten. Indem wir aber heute – anders als in den früheren Zeiten – real bestellte Programme und Innovation eher entkoppeln – Stichwort beschafft werden „marktverfügbare Produkte“ –, müssen wir umso mehr darauf achten, dass wir Innovationen als solche nicht vernachlässigen. Es müssen hierfür eigene Beauftragungen erfolgen und es muss in ausreichendem Maße auch und gerade aus dem BMVg-Haushalt F&T-Förderung ermöglicht werden.

Insgesamt hatten natürlich – wie bekannt – vor allem die Jahre zwischen 2004 und 2014 auf die Bundeswehrausrüstung eine ziemlich negative Auswirkung. Hinzu kam, dass wir uns im Glauben an eine nahezu grenzenlose Globalisierung befanden. Dies wiederum führte dazu, dass sich auch der frühere innere Zusammenhalt zwischen der Bundeswehr und „ihren“ Ausrüstern mehr oder weniger stark auflöste.

In ganz Europa waren die Streitkräftebeschaffer der Meinung, sie könnten ihre Bedarfe nahezu überall auf der Welt decken, außer vielleicht in Russland oder China. Jedenfalls führte dies bei der europäischen Rüstungsindustrie zu einer ziemlichen Ratlosigkeit gegenüber ihren eigenen Regierungen. Diese wurde erst dadurch überwunden, dass im Jahr 2013 – also noch vor der „kleinen Zeitenwende“ in Form der Krim-Annexion – seitens der Industrie die Forderung nach einer Benennung bestimmter Souveränitätsbegründender, nationaler Schlüsseltechnologien erhoben wurde.

Grundgedanke dieses Konzepts war es, dass sich auch europäische Rüstungskooperationen nur dann erreichen lassen würden, wenn jedes beteiligte Land zuvor seine Hausaufgaben gemacht und sich darüber Rechenschaft abgelegt hat, in welchen Bereichen man gar nicht oder nur unter besonderen Rahmenbedingungen mit anderen kooperieren will.

Umso mehr war es anschließend eine positive Überraschung, dass sich die 2013 ins Amt gekommene dritte Bundesregierung unter der Kanzlerschaft von Bundeskanzlerin Merkel dazu entschloss, dieses Konzept der nationalen „Schlüsseltechnologien“ 2015 erstmals in die damals neu aufgelegte Regierungsstrategie zur Stärkung der Verteidigungsindustrie zu übernehmen.

Nicht nur die Bundeswehr hat in der Zeit nach dem Kalten Krieg Personal reduziert. Wie änderten sich die Mitarbeiterzahlen in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie als Folge der „Friedensdividende“? 

Es hat sich damals als Vorteil erwiesen, dass die Unternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland von jeher privatwirtschaftlich organisiert waren. Dies hat ihre Anpassungsfähigkeit damals ebenso begünstigt, wie sie dies auch jetzt tut.

Denn auch jetzt stehen wir vor einer gewaltigen Veränderung, jedoch im umgekehrten Sinne: Während es damals um den Abbau von Kapazitäten bzw. deren Umschichtung auf zivile Nachfrage und auch auf Export ging, geht es heute darum, sehr schnell unter Nutzung aller dafür geeigneten volkswirtschaftlichen Ressourcen unsere Rüstungskapazitäten weiter hochzufahren, damit wir schnell die nötige Abschreckungsfähigkeit auf Seiten der Bundeswehr sowie eine ausreichende gesamtgesellschaftliche Resilienz erreichen.

Mit anderen Worten: In beiden Richtungen ist es von Vorteil, wenn bei solchen Einschnitten die Dynamik privatwirtschaftlicher Kräfte voll zum Tragen kommen kann. Dies setzt allerdings im Rüstungsgeschäft eines voraus, nämlich absolute und langfristige Planbarkeit und Verlässlichkeit auf der Haushalts- und Auftragsseite.

50 Jahre Tornado: Sonderlackierung zum 50. Jubiläum des Erstflugs – Der Tornado erstrahlt in neuem Glanz Foto- Airbus
Sonderlackierung zum 50. Jubiläum des Erstflugs – Der Tornado ist eine europäische Gemeinschaftsentwicklung.
Foto: Airbus

Die saubere Abgrenzung und Zuordnung von Beschäftigtenzahlen zu bestimmten Tätigkeiten fällt nicht ganz leicht. Zahlen habe ich dazu aktuell nicht zur Hand. Aber natürlich hat auch unsere Branche und Europa den seinerzeitigen Rückgang der Ausrüstungsnachfrage massiv zu spüren bekommen. Insbesondere konnte angesichts des immer schon besonders strengen Exportkontrolle-Regimes dieser Rückgang zu keiner Zeit in vollem Umfang durch Exporte kompensiert werden.

Was bedeutet das für den aktuell erforderlichen „Wiederaufwuchs“ aufgrund der geänderten Sicherheitslage?

Insgesamt bin ich optimistisch, dass wir diesen Wiederaufwuchs hinbekommen. Wir sehen schon seit einer ganzen Weile, dass die Bewerberzahlen bei den Defence-OEMs zunehmen. Wir sehen aber auch, dass in einem Wirtschaftszweig wie der Automobilzulieferindustrie an etlichen Stellen sehr qualifizierte Arbeitskräfte für einen Übergang in die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie frei werden. Stellenweise sind solche Übergänge auch schon erfolgt. Hier müssen wir nur – gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit und den Gewerkschaften – darauf hinwirken, dass die betroffenen Arbeitskräfte dies auch wirklich als eine Chance für sich begreifen.

Bislang ist mancherorts festzustellen, dass die Bereitschaft von Belegschaftsmitgliedern, einen Ortswechsel in der näheren Umgebung der bisherigen Arbeitsstelle zu akzeptieren, oder vielleicht auch ohne volle soziale Abfederung den Arbeitgeberwechsel zu vollziehen, eher gering ausgeprägt ist. Hier wären Verbesserungen wünschenswert. Außerdem kann und muss der Staat mit seinen Mitteln bei der Qualifizierung von übergehenden Arbeitskräften und auch bei der Erteilung der verschiedentlich erforderlichen Sicherheitsermächtigungen noch stärker unterstützen.

Im Rückblick auf die letzten 70 Jahre wurde nach unterschiedlichen Beschaffungsrichtlinien und Strategien beschafft. Wie beurteilen Sie retrospektiv die Folgen dieser Veränderungen z.B. durch die Einführung des sogenannten Customer Projekt Management (CPM) auf die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie?

Aus meiner Sicht ist es normal, dass eine Beschaffungsverwaltung wie die der Bundeswehr von Zeit zu Zeit ihr internes Regelwerk weiterentwickelt oder sogar komplett erneuert, wie zuletzt im Jahr 2024 mit dem Dokument zur „Projektbezogenen Bedarfsdeckung und Nutzung PBN“ geschehen, welches den Leitfaden „Customer Project Management“ CPM – aus dem Jahr 2018 ersetzt hat. Heute geht es eben – anders als früher – vor allem um die schnelle Beschaffung „marktverfügbarer“ Lösungen, was sich in den Ansätzen des PBN widerspiegelt.

Was muss mit Blick auf die allgemeine Sicherheitslage aus Ihrer Sicht im Bereich der Zusammenarbeitsbeziehungen konkret noch weiterentwickelt werden?

Vor allem erscheint mir wichtig, dass wir zwischen Beschaffungsverwaltung und Industrie sehr klar über die abzuarbeitenden Bedarfe reden. Die Industrie braucht – wie schon gesagt – Planbarkeit und Verlässlichkeit. Wenn unsere Unternehmen wissen, wie viel Output sie in einer bestimmten Zeiteinheit produzieren müssen, dann werden sie dies nach einer entsprechenden Aufbauphase auch hinbekommen. Dies gilt umso mehr, als in unserer Wirtschaft eine große Bereitschaft auch anderer Branchen und Unternehmen zu erkennen ist, zum Gelingen dieses Prozesses beizutragen.

Darüber hinaus haben wir schon seit Längerem darauf hingewiesen, dass wir auch eine Erleichterung bei unterschiedlichsten bürokratischen Vorgaben benötigen, angefangen vom Vergaberecht bis hin zu Umweltverträglichkeitsuntersuchungen und bestimmten EU-induzierten Bürokratiemonstern. Vieles hat sich in dieser Beziehung schon getan, sowohl in Brüssel mit der „Defence Omnibus Simplification“ wie auch in Deutschland mit dem von der neuen Bundesregierung im Eiltempo verabschiedeten „Planungs- und Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz“.

Mit Blick auf die Zukunft: Welche konkreten Maßnahmen sind durch Ihren Verband eingeleitet worden, um die für die oft zitierte „Kriegstüchtigkeit“ erforderlichen Fähigkeiten in ausreichender Anzahl der Truppe bis 2027 bzw. 2029 zur Verfügung stellen zu können?

Wir als Verband können hierbei vor allem flankieren. Ich denke, dass am wichtigsten unsere Vorarbeiten waren. Wir haben seit 2021 mit einer intensiven Kampagne in Berlin und Brüssel darauf hingewiesen, dass es nicht sein kann und sein darf, dass Waffen für unsere EU- und NATO-Streitkräfte als abträglich für Nachhaltigkeit hingestellt werden, wie es beispielsweise der „Green Deal“ der EU zunächst hatte aussehen lassen.

Wir haben es geschafft, diesen Trend nahezu komplett umzukehren. Wir haben ferner das gesamte Jahr 2024 Politik und Öffentlichkeit darauf vorbereitet, dass die Erreichung von Verteidigungsfähigkeit und Resilienz eine Reihe von Voraussetzungen hat, die gewährleistet sein müssen, damit die Unternehmen unserer Branche schnell genug liefern können. Wir haben dies in zehn BDSV-Punkten zur sog. „Resilienzwirtschaft“ zusammengefasst, die Eingang in die im Dezember 2024 verabschiedete „Nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie“ sowie nun auch in das genannte Bundesgesetz gefunden haben.

Wir haben weiterhin auch auf die Fallstricke der Lieferketten-Resilienz und möglichen Rohstoffabhängigkeiten hingewiesen. Schließlich haben wir mit dem medial verbreiteten Aufruf „Autos zu Rüstung“ eine Menge an gesamtwirtschaftlicher Dynamik und Motivation in Gang gesetzt, die hoffentlich dazu beiträgt, dass wir als deutsche Volkswirtschaft in der Lage sein werden, bis 2029 die notwendige Rundum-Resilienz zu erreichen, in Form einer für ihre NATO-Aufgaben gut gerüsteten Bundeswehr und ebenso in Form einer adäquat resilienten und zur „Gesamtverteidigung“ befähigten Zivilgesellschaft.

 

Herr Dr. Atzpodien, vielen Dank für das Gespräch.
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