Software Defined Defence (SDD) als neues zentrales Paradigma für die Entwicklung der Streitkräfte der Zukunft hat das Ziel, die enormen Potenziale von Software für die flächendeckende Steigerung der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr zu nutzen. Eine Begrenzung auf zukünftige Plattformen und Waffen greift dabei zu kurz, da auch eingeführte Systeme von den neuen Möglichkeiten der digitalen Welt profitieren sollten. Kapitän zur See Daniel Prenzel, aus CIT I 3 im Bundesministerium der Verteidigung gibt in diesem Gastbeitrag aus dem cpmFORUM 5/24 Einblicke in das aktuelle Thema SDD.
Digitalisierung verändert zunehmend und in immer größerer Geschwindigkeit sämtliche Lebensbereiche der Gesellschaft. Hierfür verantwortlich sind insbesondere die rasante Weiterentwicklung von Software in immer kürzeren Zyklen, zunehmende Datenmengen sowie exponentiell steigende Rechenkapazitäten. In der Privatwirtschaft wirkt sich Software disruptiv auf ganze Branchen aus, u.a. durch den Einsatz von „Künstlicher Intelligenz“ (KI). Keiner kann sich mehr dem Einfluss und einer „Abhängigkeit“ von Software entziehen, seien es Apps auf dem Smartphone, Entertainment-Systeme im Auto oder die Steuerung der Haustechnik.
Auch in den Streitkräften hat die Bedeutung stetig zugenommen. Nahezu alle Waffensysteme, beispielsweise Panzer, Schiffe oder Flugzeuge, könnten ohne entsprechende Software ihre Fähigkeiten nicht entfalten und wären damit für die Auftragserfüllung nicht geeignet. Aber in der Wahrnehmung und damit auch in Rüstung und Beschaffung steht immer noch die Plattform mit ihren physikalischen Eigenschaften und weniger die Software im Fokus der Betrachtung.
SDD schafft die Voraussetzungen, um schnell auf sich ändernde Bedrohungen durch reine Anpassungen von Software, ganz ohne physische Hardware-Modifikationen reagieren zu können. Kern ist eine Verschiebung des Fokus hin zu mehr modularisierten und wiederverwendbaren softwarebasierten Komponenten. Verbesserungen der Fähigkeiten und der Leistungsfähigkeit erfolgen lageangepasst über rasche Änderungen an der Software.
Auch Fähigkeitsgewinne durch neue Software und Vernetzung bisher nicht interagierender Systeme können schneller als in herkömmlichen Systementwicklungszyklen erreicht werden. Inkrementelle Vorgehensmodelle, hohe Agilität sowie Flexibilität der Softwareentwicklung können damit auch bei Waffensystemen zur Anwendung kommen. Eine digitale Ertüchtigung von Systemen ist hierfür von entscheidender Bedeutung.
Potenziale von SDD
Mit der Umsetzung von SDD als zentralem Leitprinzip für die zukünftige Streitkräfteentwicklung können eine Vielzahl von Potentialen und Mehrwerten erschlossen werden. Dank kurzer Entwicklungszyklen von Software kann die Leistungsfähigkeit insbesondere von Führungs-, Informations- und Waffensystemen der Bundeswehr deutlich schneller gesteigert werden, denn mit Software lassen sich viel zügiger, größere Sprünge in der Fähigkeitsentwicklung erreichen als dies bei physischen Systemkomponenten möglich wäre.
Die Möglichkeit und Notwendigkeit, immer größere Datenmengen zu erfassen, erfordert eine hochprofessionelle Datenverarbeitung. SDD schafft die Voraussetzungen, die Daten- und Informationsflut nicht nur beherrschbar zu machen, sondern zum Vorteil der Bundeswehr zu nutzen. Denn mit zeitgemäßer Software und Unterstützung durch KI lassen sich die Daten zahlreicher Sensoren in kürzester Zeit zu aussagekräftigen, hochqualitativen Informationen verdichten und eine Überlegenheit im militärischen Entscheidungsprozess generieren.
Deutliche Potentiale liegen in einem effizienteren Einsatz der begrenzten personellen Ressourcen. Die Möglichkeiten der Automatisierung durch Software sind immens, wobei menschliche Akteure nichtsdestotrotz alle Entscheidungen treffen („Human in the loop“ by design). Angesichts steigender Datenmengen und begrenzter personeller Ressourcen ist Automatisierung für die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr nicht nur erfolgskritisch, sondern alternativlos.
Last but not least sind auch die finanziellen Ressourcen zu erwähnen. Steigende Kosten für neue und insbesondere für in Betrieb befindliche Waffensysteme sowie erhöhte Leistungs anforderungen an die Bundeswehr erfordern dringend die Ausschöpfung der nicht bzw. nicht umfänglich genutzten Potenziale der Legacy-Plattformen, um die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr zu relativ geringen Kosten zu steigern.
Umsetzung von Software Defined Defence
Schon die kleine Auswahl von offensichtlichen Potentialen zeigt, dass die Umsetzung von SDD für und in der Bundeswehr erfolgen muss.
Für die Bundeswehr hat die Abteilung Cyber- und Informationstechnik des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) den Lead übernommen. Ein erster wesentlicher Schritt ist die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses und Zielvorstellung für dieses umfassende Thema. Mit einem Team von fachlich zuständigen Stellen wird dies vorangetrieben. Hierzu werden und wurden verschiedene Workshops und Veranstal tungen zu übergreifenden, aber auch detaillierten Aspekten durchgeführt. Das Erkenntnis, dass SDD der Weg ist, um viele aktuelle Herausforderungen anzugehen, ist dabei breiter Konsens.
Dies ist jedoch nur ein erster Schritt. Viele weitere Themenfelder und Aspekte, die zum Teil bereits identifiziert wurden, müssen nun vorangebracht werden.
Ohne grundlegende technische Anpassungen wird SDD nicht umsetzbar sein. Wesentlich sind das Entwickeln, Abstimmen und Vorgeben von entsprechenden Architekturen und Standards. Denn zum einen müssen die Bestandssysteme digital ertüchtigt werden, da diese noch in der „alten Welt“ entwickelt und beschafft wurden. Zum anderen müssen aber zukünftige Systeme bereits „SDD-ready by design“ sein. Neben den Plattformen ist natürlich auch die IT-Landschaft anzupassen. Die Digitalisierungsplattform Geschäftsbereich BMVg (GB BMVg) ist hierfür die komplementär anzuwendende Methode, die die Bundeswehr in die Lage versetzt, SDD umzusetzen.
Ein weiteres Themenfeld ist die Softwareentwicklung selbst. Neben der Frage „Womit?“ – eine oder mehrere Entwicklungsumgebungen – wird insbesondere die Frage „Wer?“ zu beantworten sein. Aber auch prozessuale Fragestellungen sind in diesem Kontext zu beantworten, u.a. zu Zyklen, Medien, Ausrollen, Pflege. Dies alles wird voraussichtlich in einer Software Factory Bw münden, deren Ausgestaltung in allen Facetten einiges an Grundlagenarbeit, aber auch Erprobung bedarf. Allerdings existiert mit der „Plattform 42“ der BWI GmbH bereits ein solides Fundament, welches man als Basis hierfür verwenden und weiterentwickeln kann.
Sicherheitsaspekte sind für die Streitkräfte von besonderer Bedeutung. Zwar können durch die Umsetzung von SDD einige Sicherheitsherausforderungen gemindert werden, indem z. B. Sicherheitspatches schneller durchgeführt werden können. Gleichzeitig entstehen aber auch neue Angriffsvektoren, die abgesichert werden müssen. Kein unbefugter Dritter soll die Systeme „updaten“. Sicherheit, insbesondere Informationssicherheit, ist sowohl in den Plattformen, der IT, der Software-Entwicklung als auch in den Prozessen immer mit zu denken.
Künstliche Intelligenz ist dabei ein Themenfeld, das in rasanter Geschwindigkeit neue Möglichkeiten eröffnet und somit den Anpassungsdruck weiter erhöht. Dabei ist KI sowohl Unterstützer als auch Treiber von und für SDD.
Zusammenarbeit mit der Industrie
Neben den Arbeiten innerhalb der Bundeswehr findet im Rahmen des Gesprächskreises 4 (GK4) „Innovation Cyber/IT“ des strategischen Industriedialogs mit dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV), dem Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie e.V. (BDLI) und dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (Bitkom) die gemeinsame Erschließung von SDD statt.
In einem ersten wesentlichen Schritt wurde eine gemeinsame Position erarbeitet und angelehnt an die Berliner Sicherheitskonferenz veröffentlicht.
Dies war jedoch nur der Auftakt für eine intensive Arbeit in verschiedenen Arbeitsgruppen unter breiter und ambitionierter Beteiligung vieler Firmen, Unternehmen und Angehörigen des GB BMVg. Die dabei behandelten Fragestellungen decken eine Vielzahl von Aspekten ab, die für die weitere Umsetzung und Etablierung von SDD elementar sind. Ausgewählte Beispiele sind:
- Wie können Bundeswehr, BWI und Industriepartner gemeinsam zertifizierte KI-Modelle sicher entwickeln und bereitstellen?
- Wie passen Containerisierung und Container-Orchestrierung konzeptionell in SDD?
- Wie sieht eine angepasste Systemarchitektur aus? Welche Verbesserungen sind erforderlich?
- Welche Methodiken für Softwareentwicklung gibt es und wie können diese zur Schaffung einer einheitlichen Methode für die Bundeswehr beitragen?
- Wie können Bundeswehr und Industrie bei der Softwareentwicklung zusammenarbeiten?
- Wie sichert man eine Software-Lieferkette ab?
- Was muss man bzgl. der Rechtesituation beachten?
- Passen die Verträge und Vertragsmuster zu den Anforderungen von SDD?
Aus den entstehenden Arbeitspapieren werden absehbar weitere Fragen resultieren, aber auch wertvolle Empfehlungen für die weitere Umsetzung von konkreten Projekten.
Ausblick
Die weitere Erschließung des Themas ist alternativlos. Dabei müssen bereits identifizierte, aber auch neue Fragestellungen ohne Denkverbote beantwortet werden, um als Grundlage für zielführende Lösungen dienen zu können. Dazu zählen auch erforderliche Anpassungen an Vorschriften, Verfahren, Vorgaben, sofern sie den Zielen SDD hinderlich sind.
Aber nur Konzepte allein helfen nicht. Die vorhandenen Gedanken und Ideen müssen schnellstmöglich in die Praxis kommen. So kann man einerseits den Mehrwert nachweisen und anderseits die Entwicklung ergebnisorientiert vorantreiben. Hierfür sollen in naher Zukunft erste prototypische Nachweise von Teilaspekten umgesetzt werden, die dann als Nukleus für Ergänzungen und einen iterativen Aufwuchs dienen. Mögliche Schwerpunkte sind z.B. die Etablierung und Erprobung einer Software Factory Bw und die Anwendung auf bzw. Verbindung zu geeigneten Plattformen und Systemen. Das alles kann aber nur gemeinsam – Bundeswehr mit Industrie – gelingen.
Kapitän zur See Daniel Prenzel,
CIT I 3, Bundesministerium der Verteidigung
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