Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Jahr 2022 gilt der Einsatz von ABC-Kampf- und Gefahrstoffen durch staatliche Akteure als konkrete Bedrohung. Der Einsatz chemischer Stoffe ermöglicht es, statische Pattsituationen in dynamische Gefechtshandlungen zu überführen.
Zusätzlich verstärkt Russland seine Drohkulisse durch das Thema Kernwaffen, deren Stationierung und Einsatzoptionen. Im September 2024 gab der russische Präsident Putin die Anpassung der entsprechenden Einsatzdoktrin bekannt. Die im Jahr 2022 veröffentlichte NATO Chemical, Biological, Radiological and Nuclear (CBRN) Defence Policy greift die Lehren aus Pershings Zitat auf und adressiert die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, Akteure und Entwicklungen der Gegenwart.
Im Einklang mit diesen Prinzipien betont die NATO-Strategie für die ABC-Abwehr: “NATO’s populations, territories and forces will be defended and secure against the threat or use of chemical, biological, radiological or nuclear materials and weapons of mass destruction. The proliferation, threat or use of Weapons of Mass Destruction and their delivery systems will not undermine NATO’s deterrence and defence. NATO forces will be able to operate effectively, fight and prevail in any environment.”
Was bedeutet das für uns und die Fähigkeitsentwicklung?
Die Bundeswehr der Zeitenwende legt den Schwerpunkt erneut auf die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV). Erforderliche Fähigkeiten müssen sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgebaut oder neu entwickelt werden. Das Ziel ist, den jeweiligen dimensionsspezifischen Auftrag – auch unter ABC-Bedrohungen oder Bedingungen – zuverlässig zu erfüllen. Das Systemverständnis der ABC-Abwehr erfordert umfassende Anpassungen und Modernisierungen der materiellen Ausstattung.
Gleichzeitig ist ein Umdenken bei der Härtung kritischer Infrastruktur und von Wehrmaterial notwendig. Kontinuierliche Weiterentwicklungen, technologische Innovationen und gezielte Anpassungen in den Bereichen ABC-Schutz, ABC-Aufklärung und Dekontamination sind notwendig, um aktuellen und zukünftigen ABC-Bedrohungen wirksam zu begegnen. Zukunftsweisende Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI), autonome Systeme und Quantentechnologie werden auch bei den ABC-Abwehrkräften der Bundeswehr eine zentrale Rolle spielen.
ABC-Schutz
Der ABC-Individualschutz bildet die erste Verteidigungslinie für alle Angehörigen im Geschäftsbereich BMVg im Falle eines ABC-Ereignisses. Durch das Tragen der ABC- Schutzmaske in Verbindung mit persönlicher Schutzbekleidung wird das Personal vor direktem Kontakt mit ABC-Kampf- und Gefahrstoffen sowie deren Wirkungen geschützt. Künftige Entwicklungen im ABC-Individualschutz sollen die Schutzwirkung und den Tragekomfort verbessern und die physiologische Belastung verringern. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Schutz vor Aerosolen, die als Stoffgemische zur Verbreitung biologischer oder chemischer Kampfstoffe genutzt werden können.
Moderne Schutzanzüge werden mit neuen Materialien ausgestattet, die eine verbesserte Filterwirkung gegen Aerosole bieten, ohne die Bewegungsfreiheit oder den Tragekomfort einzuschränken. In einigen Bereichen der Bundeswehr, wie bei Brandschutzpersonal oder Kampfmittelabwehrkräften, kann die eingeführte persönliche ABC-Schutzbekleidung nicht getragen werden. Daher werden Alternativen entwickelt, die von ABC-Unterbekleidung bis hin zu Einwegschutzbekleidung reichen.
Auftragsbedingt kann es erforderlich sein, die Operationsführung über einen längeren Zeitraum in einem kontaminierten Gebiet aufrechtzuerhalten. Dafür muss ABC-Sammelschutz, insbesondere für Waffensysteme und Plattformen, bereitgestellt werden. Stationäre militärische Einrichtungen, die unter kontaminierten Bedingungen uneingeschränkt funktionsfähig bleiben müssen, benötigen ABC-Sammelschutz.
Mobiler ABC-Sammelschutz, wie er in Fahrzeugen, Schiffen und Booten seit Jahren eingesetzt wird, ist bewährt. Heutzutage besteht jedoch ein wachsender Bedarf an transportablem ABC-Sammelschutz, etwa in Form modularer Container und Zelte, um flexibel auf unterschiedliche Einsatzszenarien reagieren zu können.
Transportabler ABC-Sammelschutz wird mit fortschrittlichen Luftfiltersystemen ausgestattet, die gereinigte Luft kontinuierlich bereitstellen und gleichzeitig vor Aerosolen schützen. Die Integration verbesserter Schleusensysteme gewährleistet den sicheren Übergang von Personal und Material. Aufbau, Betrieb und Abbau sollen effizient, schnell und ohne zusätzliche Personalbindung erfolgen.
Neben dem Schutz von Personal ist die Steigerung der Widerstandsfähigkeit von Infrastruktur und Wehrmaterial gegen die Auswirkungen von ABC-Kampf- und Gefahrstoffen entscheidend. Die sogenannte ABC-Härtung verfolgt mehrere Ziele: das Überleben von Besatzungen und Bedienern zu sichern, die Funktionalität des Materials zu erhalten und die Operationsfähigkeit durch Dekontaminierbarkeit oder Oberflächenschutz wiederherzustellen.
Zu den Einzelmaßnahmen der ABC-Härtung zählen die Integration von ABC-Sammelschutz, die Verbesserung der Dekontaminierbarkeit von Wehrmaterial durch geeignete Oberflächenmaterialien und optimierte Formgebung sowie der Schutz integrierter Elektronik vor Nuklearen Elektromagnetischen Impulsen (NEMP).
Die ABC-Bedrohung erfordert Maßnahmen zur Härtung konsequent in den Rüstungsprozessen zu planen und umzusetzen. Nur so können Geräte, Systeme und Plattformen auch unter ABC-Bedingungen zuverlässig funktionieren oder nach einem ABC-Ereignis einsatzbereit bleiben. Das Zusammenspiel aus ABC-Individualschutz, flexiblem und transportablem ABC-Sammelschutz sowie Maßnahmen der ABC-Härtung ist entscheidend, um in allen Dimensionen unter ABC-Bedingungen bestehen zu können.
ABC-Aufklärung
ABC-Aufklärungskräfte erkennen ABC-Ereignisse und gewinnen schnellstmöglich Informationen über freigesetzte Kampf- und Gefahrstoffe. Diese Erkenntnisse fließen direkt in das ABC-Lagebild ein und tragen entscheidend zur Operationsplanung und -führung bei. Je nach benötigter Teilfähigkeit der ABC-Aufklärung stehen unterschiedlich ausgestattete Einsatzelemente bereit. Freisetzungen in offenem Gelände werden von mobilen ABC-Aufklärungskräften übernommen. Belastbare Messergebnisse dienen als Grundlage für die fachliche Beratung der entsprechenden Führungsebene durch qualifiziertes ABC-Abwehrpersonal.
Fahrzeuge wie der Schützenpanzer PUMA oder der Spähwagen FENNEK sind vereinzelt mit Spür- und Messgeräten ausgestattet, die radioaktive Strahlung oder chemische Kampfstoffe nachweisen. Künftig werden diese Daten automatisiert in ein Sensor-Netzwerk integriert, um eine schnellere und präzisere Lagebewertung zu ermöglichen. Unbemannte Systeme wie Drohnen (UxS) erhöhen die Effektivität der großflächigen mobilen ABC-Aufklärung, besonders bei begrenztem Fahrzeugbestand.
Sensorbasierte ABC-Aufklärung
Das Zielbild der vernetzten ABC-Aufklärung umfasst verschiedene Sensoreinheiten, die auf Fahrzeugen, unbemannten Luftfahrzeugen und an militärischen Liegenschaften installiert sind und über ein digitales Netzwerk in Verbindung stehen. Die Sensoren im Netzwerk können chemische, biologische und radiologische Stoffe in der Atmosphäre erkennen und Echtzeitdaten an das zentrale Kontrollsystem senden.
Die Modularität der einzelnen Komponenten ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Systems, da sie eine flexible Anpassung an unterschiedliche Einsatzanforderungen ermöglicht. Dadurch kann der Sensorverbund flexibel und auftragsorientiert gemäß der lokalen ABC-Bedrohungs- und Risikoanalyse konfiguriert werden.
Neue Sensoren und Softwarelösungen lassen sich ohne aufwändige technische Änderungen integrieren, was eine schnelle Anpassung an technologische Innovationen ermöglicht. Die sensorbasierte vernetzte ABC-Aufklärung verbessert die Reaktionsfähigkeit in der ABC-Abwehr erheblich. Das schnellere Erkennen von Gefährdungen durch ABC-Ereignisse ermöglicht eine präzisere Situationsbewertung und trägt zu fundierten Entscheidungsprozessen bei.
Der vernetzte Sensorverbund eröffnet neue Perspektiven für die Interoperabilität mit anderen NATO-Partnern. Der Einsatz standardisierter Schnittstellen ermöglicht den Echtzeitdatenaustausch mit verbündeten Kräften und eine länderübergreifende Reaktion auf Gefährdungen.
ABC-Aufklärung mit „Unmanned Systems“ (UXS)
Ein wichtiger Aspekt der Modernisierung ist der Einsatz unbemannter Systeme als Teil der sensorbasierten, vernetzten ABC-Aufklärung. Sie erkunden kontaminierte Gebiete schnell und minimieren dabei das Expositionsrisiko für Personal. Unbemannte Systeme können mit unterschiedlichen Sensoren ausgestattet werden, um ABC-Kampf- und Gefahrstoffe aus der Luft oder am Boden zu detektieren. Unbemannte Luftfahrzeuge für die C-Aufklärung können mit spektralen Sensoren ausgestattet werden, die chemische Gefahrstoffe in der Luft präzise erkennen.
Drohnen werden künftig Bodenproben entnehmen sowie hochauflösende Bilder und Videos des betroffenen Gebiets erstellen. Zukünftige Systeme werden autonomer agieren, längere Flugzeiten ermöglichen und mit präziseren Sensoren ausgestattet sein, wodurch die Aufklärungsfähigkeit deutlich steigt. Die Vernetzung mit bodengebundenen Systemen und bemannten Luftfahrzeugen schafft ein integriertes, mehrschichtiges Aufklärungssystem.
Dekontamination
Neben der ABC-Aufklärung ist die Dekontamination ein zentraler Bestandteil im System ABC-Abwehr. Im militärischen Kontext bedeutet Dekontamination, Kontaminationen von Personen, Geräten, Materialien, Ausrüstung oder Infrastruktur zu reduzieren oder zu entfernen. Ziel ist die Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft aller Kräfte. Dabei ist nicht nur die operative Dimension Land zu berücksichtigen.
Vielmehr wird ein multidimensionaler Ansatz verfolgt, um im „Future Operating Environment 2040“ den notwendigen Fähigkeitsbeitrag leisten zu können. Technologische Fortschritte und steigende Anforderungen an Flexibilität und Geschwindigkeit erfordern neue, zukunftsweisende Dekontaminationsverfahren. Dabei stehen die effiziente Nutzung von Ressourcen sowie der Schutz eingesetzter Kräfte im Fokus.
Frühere Einsatzszenarien basierten auf der Annahme eigener Luftüberlegenheit. Die Kriegsrealität in der Ukraine verdeutlicht jedoch ein anderes Bedrohungsbild. Diese ständige Bedrohung aus der Luft erfordert ein Umdenken und neue Ansätze im Bereich der Dekontamination. Traditionell basiert die Dekontamination auf wasserbasierten Systemen, die spezielle Dekontaminationsmittel verwenden.
Wasser lässt sich leicht transportieren und verteilen und entfernt in Kombination mit Dekontaminationsmitteln effizient ABC-Kampf- und Gefahrstoffe. In extremen Klimazonen, wie in sehr kalten oder heißen Regionen, ist die Verfügbarkeit von Wasser jedoch stark eingeschränkt. Der Betrieb mobiler wasserführender Anlagen bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ist nicht nur äußerst energieaufwendig, sondern auch technisch anspruchsvoll.
Der Wassertransport für die Dekontamination großer Truppenkörper stellt eine erhebliche logistische Herausforderung dar. Trotzdem bleibt die wasserbasierte Dekontamination ein wichtiger Bestandteil der ABC-Abwehr der Bundeswehr. Im Mittelpunkt zukünftiger Entwicklungen stehen die Reduktion des Wasserverbrauchs und die Verbesserung der Effizienz der Dekontaminationsverfahren.
Moderne Technologien nutzen Mikroemulsionen, die mit minimalem Wasserverbrauch eine hohe Wirksamkeit erzielen. Diese Technologien müssen nicht nur effektiv, sondern auch biologisch abbaubar und umweltfreundlich sein, um dekontaminierte Geländeabschnitte für zukünftige Operationen risikofrei nutzbar zu machen.
Future Operation Enviroment 2040 – Die Zukunft der Dekontamination
Das größte Innovationspotenzial liegt in der automatisierten Dekontamination. Der Dekontaminationsprozess wird künftig durch Roboter und spezialisierte Maschinen unterstützt, die die Effizienz der Verfahren und die Sicherheit des eingesetzten Personals erheblich steigern können. Automatisierte Dekontaminationssysteme nutzen ferngesteuerte oder (teil-)autonome Fahrzeuge, die großflächig kontaminierte Bereiche, Fahrzeuge oder Geräte eigenständig dekontaminieren.
Mit zunehmender Automatisierung der ABC-Abwehr entstehen kompakte Dekontaminationselemente, die Kampftruppen im „follow me“-Prinzip begleiten. Im Bedarfsfall ermöglicht dies eine sofortige Dekontamination vor Ort. Die Konzentration von Kräften an einer zentralen Dekontaminationseinrichtung kann dadurch reduziert oder sogar vollständig ausgeschlossen werden.
Aktuelle Forschungsprojekte entwickeln intelligente Sprüh- und Dekontaminationssysteme, die Schadstoffe analysieren und automatisch die optimale Dekontaminationsmethode wählen. Zukünftige Technologien wie Laser-, UV-, Wärme- und Mikrowellenstrahlung, Micro- und Nanobots sowie Plasmainduktion werden derzeit erforscht. Diese Technologien bieten eine wirksame Alternative zu wasserbasierten Ansätzen und sind besonders in wasserarmen Einsatzgebieten von großem Nutzen.
Fazit
Die ABC-Abwehrkräfte der Bundeswehr spielen innerhalb der NATO eine zentrale Schlüsselrolle. Als Vorreiter in der Abwehr von ABC-Kampf- und Gefahrstoffen treiben sie zugleich Innovationen voran. Zur Erreichung der Fähigkeitsziele ist neben einem multidimensionalen Ansatz die enge Zusammenarbeit zwischen Streitkräften, Forschung und Industrie entscheidend. Innovative Einsatzkonzepte mit hochmoderner Ausrüstung erfordern umfangreiche personelle, materielle und finanzielle Ressourcen.
Der Krieg in der Ukraine verdeutlicht, dass der Einsatz von ABC-Kampf- und Gefahrstoffen durch staatliche Akteure wieder bittere Realität ist. Offensive Einsatzkonzepte werden kontinuierlich optimiert.
Das ABC-Abwehrkommando der Bundeswehr bleibt zentral verantwortlich für die Weiterentwicklung des Systems ABC-Abwehr und arbeitet dabei eng mit weiteren Kompetenzträgern zusammen. Damit leisten die ABC-Abwehrkräfte der Bundeswehr als „Joint Enabler“ einen entscheidenden Beitrag für alle Dimensionen – insbesondere im Kampf gegen ABC-Bedrohungen und unter ABC-Bedingungen.
Autorenteam ABC-Abwehrkommando der Bundeswehr,
Abteilung Grundlagen/Weiterentwicklung
Mit WhatsApp immer auf dem neuesten Stand bleiben!
Abonnieren Sie unseren WhatsApp-Kanal, um die Neuigkeiten direkt auf Ihr Handy zu erhalten. Einfach den QR-Code auf Ihrem Smartphone einscannen oder – sollten Sie hier bereits mit Ihrem Mobile lesen – diesem Link folgen:
