Der ENFORCER – vom leichten Wirkmittel zum Effektor in der Kriegführung aus der Luft

In 2024 sollen die ersten operationellen Lenkflugkörper ENFORCER an die Truppe übergeben werden. Bereits in den Jahren zwischen 2010 und 2015 begannen erste industrielle Arbeiten an einem Wirkmittel, das in Ergänzung zu den Fähigkeiten treten konnte, die mit dem Wirkmittel 90 in die Bundeswehr eingeführt wurden. Erfahrungen aus den Einsätzen in Afghanistan und Mali machten deutlich, dass es an einem durchsetzungsfähigen und wirksamen Effektor im Kampf gegen verdeckte Stellungen und leicht gepanzerte, bewegliche Ziele auf Distanzen bis zu 2.000 m fehlte.
(Dieser Beitrag erschien zuerst im cpmFORUM 5/23)
ENFORCER in der Version „Leichtes Wirkmittel 1800+”.
ENFORCER in der Version „Leichtes Wirkmittel 1800+”.
Foto: MBDA

Die industrieseitigen und industriefinanzierten Arbeiten konzentrierten sich dabei auf die Entwicklung und Realisierung eines Wirkmittels, das aus weitgehend auf dem Markt verfügbaren Komponenten bestand. Ziel war es, einen Effektor zu realisieren, der nicht nur schnell verfügbar, sondern auch kostengünstig in hoher Anzahl beschaffbar sein sollte. Mit dem Effektor sollte die Lücke zwischen dem Wirkmittel 90 einerseits und dem Flugkörper SPIKE andererseits geschlossen werden. Dabei war es wichtig, dass der Effektor von maximal zwei Personen eingesetzt werden konnte.

MBDA in Schrobenhausen stellte sich dieser Aufgabe und realisierte in den Jahren bis 2019 einen derartigen Flugkörper, der als Basis für die Initiative „Leichtes Wirkmittel 1800+“ dienen konnte. Am 20. Dezember 2019 war es dann soweit: Nach umfangreichen Vorarbeiten, die vor allem auch der Definition einer entsprechenden Fähigkeitsforderung, der Haushaltsmittelbereitstellung und dem Ausschreibungsverfahren dienten, wurde MBDA Deutschland vom Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) mit der Herstellung und Lieferung von ENFORCER-Lenkflugkörpersystemen beauftragt.

Das Gesamtsystem Flugkörper mit Visiereinrichtung wiegt ca. 12 kg und ist somit vergleichsweise leicht. Auf die Nutzung bereits eingeführter Komponenten wurde bei dem Beschaffungsvertrag besonderer Wert gelegt. So ist zum Beispiel die Visiereinrichtung des ENFORCER dieselbe, die auch bereits für das Wirkmittel 90 mm genutzt wird.

Wie oben bereits erwähnt, wurde der Flugkörper von MBDA konzipiert, um abgesessenen Kräften eine schnelle und präzise Wirkung auch gegen sich bewegende Ziele und Ziele hinter Deckung in einer Entfernung bis zu 2.000 Metern zu liefern. Aktuell läuft die Fertigung und Auslieferung des Pilotloses durch MBDA.

Launcher für die Anti-Drohnen Version des ENFORCER-Lenkflugkörpers.
Launcher für die Anti-Drohnen Version des ENFORCER-Lenkflugkörpers.
Foto: MBDA

Status ENFORCER/Leichtes Wirkmittel 1800+

Anforderungen an Munition und damit auch an einen derartigen Flugkörper sind hoch. Mit verschiedensten Tests, u. a. unter extremen Umweltbedingungen, konnten in den letzten beiden Jahren wichtige technische, funktionale und Sicherheitsforderungen nachgewiesen und die damit verbundenen Meilensteine erreicht werden. Für die Herstellung und Lieferung von Flugkörpern, die wie erwähnt im eigentlichen Sinn Munition sind, gelten sehr hohe Standards, die zu beachten und zu erfüllen sind. Die diesbezüglich geplanten Tests und Nachweise waren besonders herausfordernd und haben das Material bis an die Grenzen der Belastbarkeit und technischen Einsetzbarkeit geführt. Im Ergebnis konnte nachgewiesen werden, dass alle geforderten Standards nicht nur beachtet, sondern auch erfüllt wurden. Die ersten Flugkörper des Pilotloses sind ausgeliefert. Die Serienfertigung der Munitionen für die Truppe wird nach Freigabe der Fertigung Ende 2023 beginnen.

Fähigkeitsgewinn ENFORCER X

Mit dem ENFORCER/Leichtes Wirkmittel 1800+ konnte nicht nur eine Fähigkeitslücke geschlossen werden, er bietet auch breite Möglichkeiten einer Weiterentwicklung von Fähigkeiten. So plant MBDA mit dem ENFORCER X eine Panzerabwehrvariante des Lenkflugkörpers zu realisieren, die der Klasse „Leichte Panzerabwehr/Light Anti-Tank“ zuzuordnen ist. Im Gegensatz zum Grundmodell des ENFORCER, der über einen Multi-Effekt-Gefechtskopf mit Multimode-Zünder verfügt, ist für den ENFORCER X vorgesehen, einen Gefechtskopf mit einer Tandem-Hohlladung einzusetzen. Damit sollte es möglich sein, stark gepanzerte Gefechtsfahrzeuge – auch in der Bewegung – auf Distanzen von bis zu 2.000 Meter wirkungsvoll zu bekämpfen.

MBDA Deutschland setzt für die ENFORCER-Produktion das Laserschweißverfahren ein.
MBDA Deutschland setzt für die ENFORCER-Produktion das Laserschweißverfahren ein.
Foto: MBDA

Auch logistisch bietet die Weiterentwicklung ENFORCER X Vorteile. Aufgrund der Verwendung einer hohen Anzahl gleicher Baugruppen des LWM1800+ und einer nur leicht geänderten Bedienung ergeben sich Synergien in der Ersatzteilbereitstellung und -bevorratung sowie in der Ausbildung, die Aufwand und Kosten für die Bundeswehr reduzieren und zu einer erheblichen Nutzungserleichterung führen würden.

Produktion/Stückzahlen

Der nächste Schritt ist der Einstieg in die Serienfertigung. Voraussetzung hierfür ist die Freigabe zur Serienfertigung nach der Erprobung und Nachweisführung durch die Bundeswehr. Die hierfür erforderlichen Flugkörper sind an den Auftraggeber ausgeliefert und werden aktuell intensiv untersucht.

Aufgrund der Veränderungen der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen wird es erforderlich sein, möglichst schnell eine hohe Stückzahl von Flugkörpern zu fertigen. Die hierfür erforderlichen Produktionskapazitäten sind im Aufbau begriffen, dabei strebt MBDA eine Jahresfertigung von Flugkörpern in vierstelliger Höhe an. Um weitere Bedarfe kurz- oder mittelfristig abdecken zu können, ist es denkbar und umsetzbar, die Stückzahlen noch weiter zu erhöhen. Hier läge der limitierende Faktor dann bei der Verfügbarkeit von Rohstoffen oder Lieferkettenengpässen.

Welche weiteren Ausbaustufen sind darüber hinaus noch denkbar?

Hier ist zunächst eine Effektorlösung Small Anti Drone Missile für den Nah- und Nächstbereich auf Basis ENFORCER zu erwähnen. Die Small Anti Drone Missile ist ein kostengünstiger und gleichzeitig hochmoderner Lenkflugkörper, der den ENFORCER für den Einsatz gegen kleine und mittlere Drohnen anpasst und seinen Einsatz auf Plattformen finden kann, die im Verband oder einzeln Fliegerabwehr/Drohnenabwehr durchführen. Der Flugkörper nutzt als Basis den ENFORCER LWM 1800+ und bietet künftig eine effektive Wirkung gegen das besonders herausfordernde Zielspektrum kleinerer und mittlerer Drohnen. Gerade hier kommt es darauf an, mit einer sehr hohen Trefferwahrscheinlichkeit und einer möglichst großen Bekämpfungsreichweite diese zu erkennen, zu identifizieren und zu bekämpfen. Die beste Option hierfür ist ein Lenkflugkörpersystem

ENFORCER-Produktion bei MBDA in Schrobenhausen.
ENFORCER-Produktion bei MBDA in Schrobenhausen.
Foto: MBDA

Die geringe Größe des Effektors macht es möglich, eine hohe Feuerkraft durch den Einsatz einer großen Anzahl von Effektoren auf hochmobilen Plattformen/Feuereinheiten auch in Kombination mit weiteren Effektoren zu integrieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Kombination der Small Anti Drone Missile mit einem Rohrwaffensystem auf dem Flugabwehrsystem SKYRANGER 30: Die vorhandene Technologiebasis des leichten und kleinen ENFORCER eröffnet eine zentrale zusätzliche Fähigkeit.

Eine weitere Möglichkeit der Nutzung der Basistechnologie des ENFORCER ist der sogenannte ENFORCER Air Launched. Bei ENFORCER Air Launched handelt es sich um ein Konzept, das auf dem bestehenden ENFORCER-Produkt basierend die Weiterentwicklung des ENFORCER hin zu einer Hochwertmunition für Drohnen und leichten Helikoptern untersucht.

ENFORCER Air Launched kann somit zukünftig der Einstieg in eine neue Generation von Kleinlenkflugkörpern für fliegende Plattformen sein. Der Lenkflugkörper wiegt nur etwa 7 kg und kann aus der Luft gegen leicht gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt werden. Auch die spätere Integration anderer Gefechtskopfvarianten zum Einsatz gegen stärker gepanzerte Ziele wird bei den firmeneigenen Studien heute mit betrachtet.

Aktuell befindet sich MBDA in der Phase der Datensammlung zu den operativen Anforderungen der Streitkräfte an ein solches System. Diese Daten bilden die Grundlage für die Ausgestaltung der „Sensor to Shooter“-Wirkkette und sind somit elementar für die Auslegung des Wirkmittels. Vor einem Hintergrund internationalen Interesses an einer solchen Lösung arbeitet MBDA aktuell mit den brasilianischen Streitkräften und der brasilianischen Industrie zusammen.

Fasst man die Anforderungen an einen ENFORCER Air Launched zusammen, dann sprechen wir von einem kleinen, leichten und finanziell erschwinglichen Lenkflugkörper. Er soll über eine modulare Lenk- und Navigationseinheit für semiaktive Lasersuchköpfe verfügen und Teil eines Familienkonzeptes sein und durch maximale Gemeinsamkeit der Komponenten gekennzeichnet sein.

Integrierbar in taktische UAV oder „high-load-out“-Konfigurationen für MALE-Plattformen soll er über eine hohe Präzision auch bei sich schnell bewegenden Zielen verfügen und mit einer Zielgenauigkeit operieren, die möglichst geringe Kollateralschäden verspricht.

Fazit

Was Anfang des letzten Jahrzehnts in firmeneigenen Laboren der MBDA in Schrobenhausen begann, entwickelt sich zu einer Systemfamilie mit ungemein breitem Anwendungsspektrum weiter.

Gerade in den heutigen Zeiten sich verschlechternder sicherheitspolitischer Rahmenbedingungen steht mit dem ENFORCER und seinen Weiterentwicklungen ein Waffensystem zur Verfügung, das dem Operateur die dringend benötigten Handlungsoptionen bietet und ihm für die jeweils vorherrschende Gefechtssituation die angemessene Waffenwirkung bereitstellt.

Rainer Krug

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