75 Jahre NATO – von „hirntot“ keine Spur

Heute feiert das als Organisation des Nordatlantikpakts (North Atlantic Treaty Organization, kurz: NATO) gegründete Bündnis zur kollektiven Selbstverteidigung Jubiläum: 75 Jahre NATO. Einst gegründet, um sich vor sowjetischem Imperialismus und einer erneuten deutschen Aggression zu schützen, wurde die NATO zwischenzeitlich von manchen gar für „hirntot“ bezeichnet. Spätestens seit der russischen Vollinvasion in die Ukraine erlebt das Bündnis jedoch eine Wiederbelebung ungeahnten Ausmaßes und kann in diesem Jahr mehr als nur ein Jubiläum feiern.

75 Jahre NATO – NATO Flagge Grafik von Nicolas Raymond
Die Flagge der NATO symbolisiert den gemeinsamen Kurs derMitglieder zum Weltfrieden.
Grafik: CC BY 2.0 DEED Nicolas Raymond

75 Jahre entsprechen in etwa der Lebenserwartung eines Mannes in der Türkei, in China oder Tschechien. Die Lebenserwartung der NATO sollte zunächst sogar nur 20 Jahre betragen, bevor das Bündnis 1969 wegen des anhaltenden Kalten Kriegs auf unbestimmte Zeit verlängert wurde. In den über 30 Jahren, in denen dieser bereits Geschichte ist, forderten manche Politiker bereits, auch das Bündnis den Historikern zu überlassen.

„Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der NATO“, sagte beispielsweise Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2019 in einem Interview mit dem englischen Magazin ‚The Economist‘. Der frühere amerikanische Präsident bezeichnete das Bündnis 2017 gar als „obsolet“ – zumindest so lange, wie die USA die Hauptlast trügen.

Gründung der NATO: Es waren nicht die USA

Auch wenn es in der Bevölkerung häufig angenommen wird, weder ist die NATO ein Konstrukt zur Wahrung US-amerikanischer Interessen, noch waren die USA bei der Gründung des Bündnisses die treibende Kraft. Entstanden ist der Nordatlantikpakt maßgeblich auf Druck westeuropäischer Staaten, die sich bereits 1947 im Dünkirchener Vertrag (Frankreich und Großbritannien) und 1948 im Brüsseler Pakt (ergänzt um Niederlande, Belgien und Luxemburg) zu einem Bündnis zusammengeschlossen hatten.

Das Ziel war nach der grausamen Erfahrung der beiden Weltkriege, eine kollektive Selbstverteidigung gegen jeglichen bewaffneten Angriff in Europa auf die Beine zu stellen. Grundlage dafür war und ist Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen, der das Selbstverteidigungsrecht der Völker garantiert.

Zwölf Staaten unterzeichnen am 4. April 1949 in Washington, D. C., den Nordatlantikvertrag und erwecken das Bündnis zum Leben.
Zwölf Staaten unterzeichnen am 4. April 1949 in Washington, D. C., den Nordatlantikvertrag und erwecken das Bündnis zum Leben.
Foto: NATO

Nachdem die USA für ihre Bereitschaft zur Verteidigung europäischer Staaten eine explizite Gegenseitigkeit voraussetzten, konnten auch sie schließlich überzeugt werden, mit Dänemark, Island, Italien, Kanada, Norwegen und Portugal sowie mit den Staaten des Brüsseler Pakts ein gemeinsames Bündnis einzugehen. Am 4. April 1949 – heute vor genau 75 Jahren – erfolgte die Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags, am 24. August 1949 trat er in Kraft.

Frühe Mitglieder: Griechenland und die Türkei

Noch bevor die Bundesrepublik ohne eigene Armee am 6. Mai 1955 der NATO beitrat, wurden 1952 bereits zwei neue Mitglieder in das Bündnis aufgenommen: Griechenland und die Türkei. Im Zuge der Truman-Doktrin, mit der sich die USA verpflichteten, „freien Völkern bei drohender Unterwerfung“ beizustehen, hatte das Land bereits 1947 eine Schutzmachtstellung eingenommen, der es im Rahmen der NATO besser nachkommen konnte.

Die gemeinsame und gleichwertige Mitgliedschaft von Türkei und Griechenland im Militärbündnis ist neben dem Schutz der westlichen Demokratien im Kalten Krieg wahrscheinlich eine ihrer größten – wenn auch oft vergessenen – Leistungen. Wie oft wären ohne die Mitgliedschaft in der NATO bereits Kriege um ein paar Inseln und Gasfeldern in der Ägäis zwischen beiden Ländern ausgebrochen.

Osterweiterungen nach Fall des Eisernen Vorhangs

Die durch Artikel 5 des NATO-Vertrags garantierte Beistandsverpflichtung im Falle eines Angriffs gilt als Kern der kollektiven Abschreckung und Grund des Erfolgs der NATO. Möglichst schnell unter diesen Schutzschirm zu schlüpfen, hatte nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts für viele osteuropäische Staaten oberste Priorität.

Entwicklung der NATO in Europa Patrickneil und Spesh531 - Eigenes Werk, basierend auf- Blank map of Europe (with disputed regions).svg von maix und Alphathon Karte der historischen Erweiterung der NATO in Europa
Karte der historischen Erweiterung der NATO in Europa.

2024 feiert die NATO auch ein 25-jähriges Jubiläum: Mit Polen, Tschechien und Ungarn gab es 1999 die erste Runde der Osterweiterung, gefolgt von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien 2004. Nachzügler wie Albanien und Montenegro folgten, doch die Welt hatte sich verändert: Mit dem islamistischen Terrorismus war ein neuer, nicht-staatlicher Feind aufgetaucht, der – das zeigt das jüngste Beispiel in einer Moskauer Konzerthalle – auch eine Bedrohung für Russland darstellt.

Vom Vielleicht-Mitglied zum neuen „alten Gegner“

Auch wenn zwischenzeitlich eine Mitgliedschaft Russlands in der NATO zur Debatte stand, sorgte der gemeinsam beschworene Kampf gegen den internationalen Terrorismus nach dem 11. September 2001 und die von Wladimir Putin nicht nur zum deutschen Kanzler Gerhard Schröder, sondern auch zum damaligen Präsidenten George W. Bush junior aufgebaute Männerfreundschaft für eine Entspannung zwischen Ost und West.

Die in dieser Zeit geschlossenen Abrüstungsverträge und die sicherheitspolitische Einbindung Moskaus im NATO-Russland-Rat ließen die Notwendigkeit des Nordatlantikpakts als militärisches Bündnis zusätzlich unwichtiger erscheinen.

Spätestens seit der Vollinvasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich diese Entwicklung ins Gegenteil verkehrt – und ja: die imperialistischen Bestrebungen Russlands hätten schon wesentlich früher und schneller zu einem Umdenken gerade auch in Deutschland führen müssen. Dennoch: Die NATO – und hier insbesondere ihre jungen osteuropäischen Mitglieder – forderten bereits unter dem Eindruck der Krim-Annexion 2014 in Wales die Renaissance des Bündnisses durch steigende Rüstungsausgaben.

2023 waren es noch 31 Nationalflaggen, die vor der NATO-Zentrale in Brüssel wehten.
2023 waren es noch 31 Nationalflaggen, die vor der NATO-Zentrale in Brüssel wehten.
Foto: NATO

Wenn es Putins Ziel gewesen war, die NATO zu schwächen, dann ist dies gründlich schiefgelaufen. Denn durch seine Aggression gegenüber der Ukraine hat er nicht nur die NATO geeint und ihr neues Leben eingehaucht, sondern auch aktiv zur Erweiterung des Bündnisses beigetragen. Finnland und Schweden sind bereits das 31. und 32. Mitgliedsland der NATO, die Ukraine will es noch werden, genau wie Bosnien und Herzegowina sowie Georgien.

Die nächsten 75 Jahre NATO – ohne die USA?

Wenn die letzten Jahre eines bewiesen haben, dann, dass niemand die Zukunft vorausschauen kann. Wir wissen weder, ob Donald Trump im Herbst erneut zum US-amerikanischen Präsidenten gewählt wird, noch, ob er tatsächlich aus der NATO aussteigen würde. Doch selbst wenn es so käme, würde das nicht automatisch das Ende der NATO bedeuten.

Auch Gründungsmitglied Frankreich hatte sich jahrelang aus dem Bündnis zurückgezogen. Wichtig ist aber, dass sich die NATO stärker auf mögliche Entwicklungen einstellt. Auch wenn es nach einem Sieg der Ukraine über Russland wieder zu einer Entspannung in Europa kommen wird, darf diese nicht der Grund für eine erneute „Altersschwäche“ sein.

Wir werden die NATO wohl auch in den kommenden 75 Jahren brauchen. Wünschen wir dem Bündnis daher ein ruhiges und besonnenen Händchen, auf dass es durch sein Schutzversprechen auch die kommenden Jahre friedvoll für seine Mitglieder gestalten kann. Herzlichen Glückwunsch zu: 75 Jahre NATO!

Navid Linnemann

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