Verteidigung in Deutschland neu denken: Das Framework Comprehensive Defence

Deutschland steht vor einer neuen Realität. Bis spätestens 2029 muss das Land „kriegstüchtig“ sein, um sich gegen mögliche Angriffe Russlands verteidigen zu können. Es wird immer offensichtlicher, dass Bürgerinnen und Bürger, gesellschaftliche Organisationen, Unternehmen und die Demokratie selbst Ziele dieser Bedrohung sind. Landes- und Bündnisverteidigung sind daher nicht allein Aufgabe des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg). Es bedarf vielmehr einer gesamtgesellschaftlichen und gesamtstaatlichen Anstrengung. Dafür hat das Autorenteam das Framework „Comprehensive Defence für Deutschland“ entwickelt. Mit dem Ziel, diesen Herausforderungen aktiv begegnen und die Lücke zwischen Erkenntnis und Umsetzung schließen zu können.

Die Verteidigung Deutschlands kann nicht rein militärisch gedacht werden bzw. gelingen. Das Framework Comprehensive Defence greift nun die Vielfalt der zu betrachtenden Themen auf.
Die Verteidigung Deutschlands kann nicht rein militärisch gedacht werden bzw. gelingen. Das Framework Comprehensive Defence greift nun die Vielfalt der zu betrachtenden Themen auf.
Foto: Bundeswehr/Tom Twardy

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist eine neue Ära für Deutschland und Europa angebrochen. Der Krieg zwang zu neuen Sichtweisen und veränderte unsere Verteidigungs- und Bündnisstrukturen nachhaltig. Dazu kommt: Die USA ziehen sich mehr und mehr aus Europa zurück und stellen den Kontinent vor die Herausforderung, sich selbstständiger zu organisieren.

Sicherheit betrifft jede und jeden – hierfür gilt es ein kollektives Verständnis zu schaffen. Hybride Angriffe, die sich gegen zivile Infrastrukturen, den Cyberraum und die gesellschaftliche Stabilität richten, untergraben die Wirksamkeit traditioneller Verteidigungsstrategien. Damit sind innere und äußere Sicherheit nicht mehr eindeutig voneinander abgrenzbar. Globale Interdependenzen, technologische Entwicklungen in der Kriegsführung und zeitgleich auftretende Krisen, die sich gegenseitig verstärken, befeuern diese Problematik. Diese Umstände machen deutlich, dass eine rein militärische Verteidigung unserer Gesellschaft und Demokratie zu kurz gedacht ist.

Zunehmend wird daher ein Framework für die Praxis benötigt, das jenseits politischer Debatten konkrete Antworten und einen Handlungsrahmen für die neuen Bedrohungen bietet. Dieses muss so umfassend sein, dass alle Bereiche von Staat und Gesellschaft strukturiert einbezogen werden. Nur ein ganzheitlicher Ansatz, der militärische, zivile, wirtschaftliche, soziale, psychologische, ökologische und digitale Aspekte vereint, kann der Vielschichtigkeit der Bedrohungslage gerecht werden.

Die sieben Säulen von Comprehensive Defence.
Die sieben Säulen von Comprehensive Defence.
Grafik: BwConsulting

Unser Framework Comprehensive Defence für Deutschland baut auf bestehenden internationalen ganzheitlichen Ansätzen auf und überträgt diese auf Deutschland. Dabei werden bewährte Modelle, beispielsweise aus den skandinavischen Ländern mit in die Analyse einbezogen. Zusätzlich konkretisiert es bestehende nationale Strategien und denkt sie weiter. Das Framework gliedert alle Aspekte von Staat und Gesellschaft in sieben Säulen und skizziert mögliche Handlungsfelder.

Überblick über die sieben Säulen von Comprehensive Defence

Military Defence: Die Säule Military Defence umfasst alle Aspekte des Einsatzes von Streitkräften zur Verteidigung. Dazu gehören ihre Aufstellung und Struktur, ihre Einbindung im Bündnisrahmen und ihre Interoperabilität, ihre Ausbildung im Frieden, ihre Anpassungsfähigkeit an veränderte Rahmenbedingungen, aber auch insbesondere ihre Mobilmachung in Krise und Krieg. Streitkräfte sind dann zwar Hauptakteure, sie handeln jedoch nie alleine und sind auf staatliche Akteure, Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen, um ihren Auftrag ausführen zu können. Zusätzlich spielen Allianzen und internationale Partnerschaften eine zentrale Rolle für die strategische Koordinierung und die Interoperabilität. Eine starke verteidigungsindustrielle Basis sowie die Effizienz des Technologietransfers sind dabei von entscheidender Bedeutung für die langfristige militärische Wettbewerbsfähigkeit.

Social Defence: Social Defence befasst sich mit der Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft in Hinblick auf die moderne Bedrohungslage, Spannungsfälle, Krisen und Kriege. Fokusthemen sind der soziale Zusammenhalt, Informationsräume und das Ausmaß sozialer Spaltung in heterogenen Gesellschaften. Nur eine vereinte Gesellschaft mit einem starken sozialen Zusammenhalt und Verteidigungsbereitschaft kann aus Sicht von Comprehensive Defence Krisen, Kriegen und Bedrohungen standhalten und sich effektiver an neue Herausforderungen anpassen. Das gilt vor allem in Hinblick auf das immer häufigere Auftreten von hybriden Angriffen und den gezielten Versuchen der Destabilisierung. Social Defence ist gerade im Kontext von Desinformation und deren Begegnung eng mit Pychological Denfence verknüpft.

Psychological Defence: Psychological Defence bezieht sich ebenso wie Social Defence auf die Widerstandfähigkeit der Gesellschaft. Die Säule adressiert dabei jedoch die Handlungsmöglichkeiten des Individuums und zielt primär darauf ab, das Individuum auf Kriege, Krisen und Angriffe hybrider Art vorzubereiten und eine Selbstschutzfähigkeit aufzubauen. Im Sinne von Psychological Defence gilt es deshalb, das Vertrauen von Individuen in den Staat und in seine Institutionen zu stärken. Dabei spielt die Kommunikation staatlicher Stellen mit der Bevölkerung eine zentrale Rolle. Öffentliche Medien sind hierfür ein wichtiger Intermediär, denn sie können dazu beitragen, das Funktionieren von Good Governance sichtbar zu machen. Diese Rolle verdeutlicht die Relevanz von Psychological Defence bereits in Friedenszeiten.

Cyber Defence: Cyber Defence umfasst den Schutz von IT (Hard- und Software) sowie kritischer/ lebenswichtiger Infrastruktur vor Cyber-Bedrohungen. Handlungsfelder sind die Detektion, Reaktion und Monitoring von solchen Bedrohungen. Cyber Defence ist eng mit anderen Säulen (wie z.B. Psychological Defence im Kontext von Desinformation) verknüpft. In dieser Säule steht vor allem die Zusammenarbeit staatlicher und privater Akteure im Fokus, denn alle können direkt oder indirekt von Cyber-Angriffen betroffen sein. Alle gesellschaftlichen Akteure können voneinander lernen und ihre spezifischen Fähigkeiten und Ressourcen einbringen, um eine ganzheitliche und resiliente Verteidigungsstrategie zu entwickeln. Das Ziel ist die Schaffung eines widerstandsfähigen digitalen Verteidigungsraums, in dem der Staat Anreize und Rahmenbedingungen schafft und die Gesellschaft ihren Teil zur eigenen Sicherheit beisteuert.

Civil Defence: Civil Defence zielt darauf ab, die Bevölkerung und die Infrastruktur Deutschlands auf Krieg, Krisen und Katastrophen vorzubereiten, um deren Auswirkungen zu minimieren und die gesellschaftliche Funktionsfähigkeit zu bewahren. Sie umfasst Ansätze zur Stärkung des Zivilschutzes, Katastrophenschutzes, den Ausbau von Schutzräumen, die Förderung individueller und kollektiver Krisenvorsorge, eine effektive Notfallkommunikation sowie die Aufrechterhaltung von Demokratie und Ordnung. Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen, privaten Organisationen und Freiwilligen werden Ressourcen gebündelt, um im Ernstfall schnell und koordiniert handeln zu können.

Economic Defence: Economic Defence deckt die ökonomische Widerstandsfähigkeit Deutschlands in Bezug auf Krisen, Krieg, geopolitische Spannungen und weltweite Marktstörungen ab. Die Handlungsfelder innerhalb von Economic Defence konzentrieren sich dabei auf kritische Lieferketten (gerade in der Verteidigungsindustrie), wirtschaftliche Diversifizierung und die Abhängigkeit von externen Akteuren.  Economic Defence beinhaltet auch die Vorbereitung einer Kriegswirtschaft. Eine florierende Wirtschaft bildet nicht nur die Basis für sozialen Wohlstand, sondern ist auch ein unverzichtbarer Bestandteil der nationalen Sicherheit. Im Fokus dieser Säule steht die Grundgesamtheit hiesig ansässiger Unternehmen und insbesondere derer, die eine strategische Relevanz haben und kritisch für die deutsche Wirtschaft und Versorgungssicherheit sind.

Ecological Defence: Ecological Defence betrachtet Nachhaltigkeit, Widerstandsfähigkeit und Umweltsicherheit in der verteidigungspolitischen Planung – sowohl für militärische als auch für gesellschaftliche Strukturen. Im Gegensatz zu herkömmlichen militärischen Bereitschaftsmaßnahmen entfalten sich die Vorteile ökologischer Verteidigung jedoch oft erst über längere Zeiträume. Ökologische Überlegungen werden damit systematisch in die gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Risikovorsorge integriert, ohne die operative Wirksamkeit in den verschiedenen Säulen zu beeinträchtigen. Nachhaltigkeit ist somit als grundlegendes Konstruktionsprinzip von Resilienz und Verteidigungsfähigkeit und nicht als Einschränkung zu betrachten.

Fazit: Ein ganzheitlicher Sicherheitsansatz für Deutschland

Das Framework Comprehensive Defence für Deutschland bietet einen Rahmen für die Integration aller relevanten Akteure in die nationale Sicherheitsstrategie. Wir spannen damit einen Schirm auf, um alle Aspekte von Verteidigung strukturiert zu erfassen. Deutschland braucht einen umfassenden, integrativen Ansatz, um hybriden Bedrohungen des 21. Jahrhunderts wirksam zu begegnen sowie Handlungsbedarfe systematisch anzugehen – denn Sicherheit beginnt nicht erst bei der Bundeswehr, sondern bei jedem Einzelnen, jeder Organisation und Institution in Deutschland.

Autorenteam:

Johannes Bader und Michael Mittelstädt sind Senior Manager, Leoni Lübbert ist Senior Consultant, Maurice Stette, Senior Consultant, Ralph Löhrer, Consultant, und Kathrin Moog, Consultant, alle bei der BwConsulting, der Inhouse-Beratung der Bundeswehr.

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