Nukleare Teilhabe – Zwischen Strategischer Notwendigkeit und Nuklearer Abrüstung

Die Diskussion um die nukleare Teilhabe scheint nach der Entscheidung für die F-35A beigelegt. Durch die Entscheidung wurden aber wesentliche grundlegende Probleme der nuklearen Abschreckung der NATO nicht adressiert. Nukleare Abschreckung bleibt somit weiterhin nur ein Lippenbekenntnis der NATO.

Nukleare Teilhabe: Soldaten durchsuchen beim Übungsszenario Chemieunfall unter ABC-Schutz ein Gebäude im Rahmen der Übung Schneller Adler, am 11.09.2018. ©Bundeswehr/Carl Schulze
Soldaten durchsuchen beim Übungsszenario Chemieunfall unter ABC-Schutz ein Gebäude im Rahmen der Übung Schneller Adler.
Foto: Bundeswehr / Carl Schulze

Über viele Jahre hinweg war in der Bundesrepublik Deutschland und der NATO die nukleare Teilhabe ein offenes Geheimnis. Seit der Aufstellung der Bundeswehr bildete sie den grundlegenden Bestandteil des westlichen Verteidigungsverständnisses und diente als zentrale Ausrichtung für jegliche strategische Überlegungen. Das atomare Zeitalter hat seit dem Einsatz der ersten Atomwaffen im August 1945 internationale Beziehungen bis heute nachdrücklich geprägt. Eine Tatsache, die nach dem Kalten Krieg bewusst in Vergessenheit geraten zu sein scheint.

Während des Kalten Krieges sorgte insbesondere die nukleare Abschreckung für ein stabiles Gleichgewicht in Europa. Das Ende des Kalten Krieges mit den damit verbundenen Abrüstungsbemühungen hinterließ bei vielen politischen Entscheidungsträgern und militärischen Experten den Eindruck, dass die nuklearen Wirkmittel keinen militärischen Nutzen mehr hätten. Hierbei wurde die nukleare Teilhabe in ihrer Wichtigkeit nicht mehr wahrgenommen, primär vor dem Hintergrund, dass Nuklearwaffen als moralisch verwerflich angesehen werden.

Aktuell greift die nationale Sicherheitsstrategie das Thema der nuklearen Abschreckung sowie die deutsche Beteiligung im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe wieder auf. Dieser Anteil zeigt jedoch Fragen hinsichtlich der strategischen Einordnung der Rolle der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO auf. Das deutsche strategische Denken zu diesem Themenkomplex ist wie folgt zusammen zu fassen: Abschre ckung findet statt, sobald von Abschreckung gesprochen wird. Insbesondere der politische Reflex, sich zu Abschreckung zu bekennen, ohne jedoch eine glaubhafte Abschreckung als Mittel bereit zu halten. Auch in militärischen Kreisen ist die Komplexität von Abschreckung in Vergessenheit geraten. Im Speziellen werden hierbei die theoretischen Grundlagen von Abschreckung ignoriert und nicht konsequent zu Ende gedacht. Nukleare Waffensysteme gelten meist als prinzipiell nicht einsetzbar. Dieses Verhalten passiert oft nicht auf Basis mangelnder fachlicher Sachargumente, sondern aus falsch verstandenem politisch korrektem Verhalten. Dass eine effektive Abschreckung letztlich auch einen Einsatz dieser Waffen vorsieht, wird dabei gänzlich ignoriert oder als gar unmöglich ausgeschlossen.

Die oft bemühte These, ein Nuklearkrieg kann nicht gewonnen werden und darf deswegen auch nicht geführt werden, verfehlt jedoch die Problematik, die in der Logik nuklearer Abschreckung liegt. Schließt eine Seite von Beginn an den Einsatz aus, wird damit die Abschreckung gegenüber einem potenziellen Gegner untergraben. Eben das wird derzeit von militärischer Seite gegenüber der Russischen Föderation bzw. der Chinesischen Volksrepublik praktiziert, wenn lediglich vom Einsatz von strategischen Waffen gesprochen wird. Insbesondere dann, wenn jeglicher Einsatz von Atomwaffen als strategischer Akt mit Auswirkungen auf das Geschehnis verstanden wird. Die Eskalationsvarianz der NATO wird somit im nuklearen Bereich gemindert.

Soldaten unter ABC-Vollschutz warten auf das Einlaufen des Tender A 515 Main im Rahmen der Übung Toxic Fish 2018 in Eckernförde, am 25.04.2018.
Soldaten unter ABC-Vollschutz warten auf das Einlaufen des Tender A 515 Main im Rahmen der Übung Toxic Fish 2018 in Eckernförde.
Foto: Bundeswehr / David Hecker

Spätestens seit 2014 ist die nukleare Bedrohung der NATO-Mitgliedstaaten verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Besonders verschärft ist die Wahrnehmung dieser Bedrohung seit der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation. Das Bewusstsein über die strategischen Implikationen von nuklearen Drohungen oder im schlimmsten Fall eines tatsächlichen Angriffs war bis Februar 2022 nicht vorhanden. Mittelstreckenraketen aber auch Flugkörper, see- und landgestützt, stellen eine dauerhafte Herausforderung hinsichtlich ihrer Abwehr für die NATO und insbesondere Deutschland dar. Entscheidungen bezüglich Beschaffungen von Nachfolgesystemen zur effektiven Verbringung der nuklearen Teilhabe sind in der Vergangenheit verschleppt bzw. gänzlich versäumt worden. Ein Beispiel hierfür ist die Beschaffung eines Nachfolgesystems für den TORNADO. Vielfach war die nukleare Teilhabe als moralisch verwerflich oder militärisch irrelevant eingeschätzt. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld rund um nukleare Abschreckung einer kleinen Gruppe von Spezialisten vorbehalten war. Hier ist Grundlagenwissen aufgebaut und interner Wissenstransfer praktiziert worden.

Abschreckungstheorie

Die Grundannahme nuklearer Abschreckung basiert auf der Idee, dass der potenzielle Einsatz von Atomwaffen zu verheerenden Konsequenzen führen würde, sowohl für den Angreifer als auch für den Verteidiger. Die aktuelle Vorstellung von nuklearer Abschreckung basiert auf dem Konzept der

„gegenseitig gesicherten Zerstörung“ („Mutually Assured Destruction“, MAD) und somit auf einem defensiven Charakter hinsichtlich des Einsatzes von atomaren Waffen.

Die Absicht nuklearer Abschreckung ist, den potenziellen Angreifer davon abzuhalten, Atomwaffen gegen mich einzusetzen, indem ich diesem mit einer unvermeidlichen Vergeltung drohe. Der potenzielle Angreifer soll davon abgeschreckt werden, seine Atomwaffen gegen mich einzusetzen, wohl wissend, dass er selbst ebenfalls den vernichtenden Vergeltungsschlag zu erwarten hat.

Das Kosten-Nutzen-Prinzip spielt somit eine grundlegende Rolle bei der nuklearen Abschreckung und ihrer Anwendung. Im Zentrum steht, dass die potenziellen Kosten eines nuklearen Angriffs so hoch sind, dass sie den potenziellen Nutzen bei weitem überwiegen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung basiert dabei auf zwei wesentlichen Faktoren:

  1. Zerstörungspotenzial: Atomwaffen haben eine enorme Sprengkraft und können große Gebiete nachhaltig verwüsten. Das Potenzial für Massenvernichtung und die Verwüstung der eigenen Ressourcen schafft ein erhebliches Kostenrisiko.
  2. Abschreckungsglaubwürdigkeit: Glaubwürdige nukleare Abschreckung beruht auf der Grundannahme des Gegners, dass dieser einen Gegenschlag tatsächlich zu erwarten hat. Das kann nur dann herbeigeführt werden, wenn sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit vorhanden ist, im Falle eines Angriffs mit nuklearen Waffen einen Gegenangriff mit Atomwaffen zu führen.

Die Kosten für die Aufrechterhaltung einer glaubwürdigen nu- klearen Abschreckung können im Vergleich zu dem erdachten Nutzen erheblich sein, da Entwicklung, Instandhaltung und Bereitstellung von Atomwaffen einen erheblichen technischen Aufwand nach sich ziehen. Dennoch erlaubt die Stationierung von Nuklearwaffen, die Truppenstärke deutlich zu reduzieren. Taktische Atomwaffen stellen hierbei einen Sonderfall dar, da diese konventioneller Überlegenheit auf dem Gefechtsfeld Einhalt gebieten können.

Soldaten vom III. Zug der 2./Staffel vom Objektschutzregiment der Luftwaffe aus Schortens üben das Aufspüren und Erkennen von Kampfmitteln im Chemiewerk Rüdersdorf, am 15.03.2021.
Soldaten vom III. Zug der 2./Staffel vom Objektschutzregiment der Luftwaffe aus Schortens üben das Aufspüren und Erkennen von Kampfmitteln im Chemiewerk Rüdersdorf.
Foto: Bundeswehr / Jane Schmidt

Überlegungen, Nuklearwaffen, wie etwa im Rahmen des Atomwaffenverbotsvertrages, zu ächten, sind daher gegenläufig zu einer glaubwürdigen Abschreckung und stellen eine Inkongruenz dar. Lücken in einzelnen Fähigkeiten können somit einem potenziellen Gegner eine Aussicht auf Erfolg annehmen lassen, einen nuklearen Schlagabtausch gewinnen zu können. Nukleare Abschreckung kann darüber hinaus nicht objektiv rational von beiden Seiten gleichermaßen wahrgenommen werden. Das Prinzip eines Sicherheitsdilemmas ist eine der zentralen Herausforderungen der nuklearen Abschreckung. Objektive Einordnungen von Waffensystemen, ihrer Stückzahlen oder ihrer Effektivität durch eine Partei können daher nicht als universell anerkannt gelten. Eine Einordnung von Offensiv- oder Defensivwaffen ist ebenfalls nicht zielführend. Vergleiche von einzelnen Waffensystemen oder Waffenkategorien sind stets interpretativ und basieren daher auf einem kulturellen, politischen und ökonomischen Bias.

Historischer Abriss

Die nukleare Teilhabe der NATO besteht aktuell aus der luftverbrachten Freifall-Nuklearwaffe B-61 (aktuell aus der Version 12). Sollten diese taktischen Nuklearwaffen nicht ausreichen, würden die USA die Zweitschlagfähigkeit, zusammen mit Großbritannien, in Form von Uboot-gestützten Interkontinentalraketen sicherstellen. Uboote sind aufgrund ihrer Fähigkeit nicht oder nur schwer aufklärbar und hierfür besonders gut geeignet. Die nukleare Teilhabe hatte zum einen zum Ziel, die Verbreitung von Nuklearwaffen eindämmen und andere NATO-Staaten in die Verteidigungsplanung während des Kalten Krieges einzubinden. Diese wichtige Rolle wird hierbei seit 1972 durch die Nukleare Planungsgruppe der NATO wahrgenommen.

Derzeit wird nukleare Teilhabe daher als eine zentrale Aufgabe der Luftwaffe gesehen und angenommen, dies sei schon „immer“ der Fall. Bis 1994 war jedoch auch das Deutsche Heer ein zentraler Träger der nuklearen Abschreckung und Gefechtsführung. Das Heer hatte mit der Rohrartillerie 203mm und 155mm einen wesentlichen Anteil bei der Verbringung der nuklearen Teilhabe in den Verteidigungsplanungen der NATO. Weitere Systeme umfassten u.a. Kurzstreckenraketen des Typs LANCE. Hintergrund für diese zentrale Aufgabe war die NATO-Doktrin MC14/3 Flexible Response, die auch niederschwelligen Aggressionsversuchen limitiert begegnen wollte. Insbesondere sollte hierbei das konventionelle nummerische Unterlegen der NATO-Verbände ausgeglichen werden. Das Heer war somit nicht nur an der Abschreckung beteiligt, sondern an der ebenfalls wichtigen Aufgabe des glaubwürdigen Einsatzes.

Die Luftwaffe war bis zur Unterzeichnung des Intermediate Forces Treaty (INF) auch mit Systemen des Typs PERSHING 1a ausgestattet, die dafür gedacht waren, im Ernstfall die Heranführung von weiteren sowjetischen Divisionen zu verhindern. Die luftverbrachten Freifallatomwaffen wurden bereits 1960 mit großer Skepsis hinsichtlich ihrer tatsächlichen operativen und strategischen Einsetzbarkeit betrachtet.

Soldaten dekontaminieren einen Transportpanzer Fuchs an der Station "ABC-Abwehr" während der Informationslehrübung Landoperationen 2017 auf dem Truppenübungsplatz Munster, am 26.09.2017. ©Bundeswehr/Carsten Vennemann

Die Rahmenbedingungen des INF-Vertrages, die die Abrüstung von landgestützten Systemen mit einem Reichweitenspekt rum zwischen 500-2.500 km vorsahen, führten zur Abrüstung der PERSHING 1a der Deutschen Luftwaffe. Die daran anschließenden uniliteralen präsidentiellen Erlasse des ehemaligen Präsidenten Bill Clinton führten zu einer deutlichen Verminderung des Umfangs der nuklearen Teilhabe, als Zeichen des guten Willens gegenüber der Russischen Föderation. Eine komplette Abrüstung der nuklearen Teilhabe in Europa, ähnlich dem der US-Atomwaffen in Südkorea, wurde durch den Widerspruch Deutschlands und Italiens verhindert. Insbesondere die damalige Bundesregierung war bis 1994 besorgt, ob die nukleare Teilhabe in Form luftgestützter Systeme zur Abschreckung ausreichen würde. NATO-Planungen sahen den Ersatz von Kurzstreckensystemen vor, um die Lücken, in Bezug auf den Warschauer Pakt, in den operativen Einsatzkategorien schließen zu können. In diesem Zusammenhang sollten Systeme, wie die Kurzstreckenrakete LANCE, durch modernere Systeme ersetzt werden. Diese Modernisierung wurde jedoch im Zuge der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der allgemeineren Annahme einer geänderten Bedrohungslage eingestellt. Eine Entscheidung, die die nukleare Teilhabe in der heutigen Form zur Folge hatte.

Abrüstungsverträge und Mutually Assured Destruction

Die zentrale Aufgabe der Raketenabwehr ist es, die Zivilbevölkerung sowie auch militärische und kritische Infrastruktur vor Angriffen mit ICBM, MRBM und IRBM zu schützen. Innerhalb der NATO ist Raketenabwehr von nuklearer Abschreckung gedanklich getrennt. Überlegungen im Rahmen des European Sky Shield befassen sich ebenso nicht mit der Wechselwirkung hinsichtlich der nuklearen Abschreckung.

Raketenabwehr beeinflusst die Kosten-Nutzen-Rechnung. Es ist daher überraschend, dass eine empirische Untersuchung der Korrelation von nuklearer Abschreckung und Raketenabwehr unterblieben ist. Aktuelle Überlegungen hinsichtlich der Implementierung von Sky Shield haben Aspekte von nuklear strategischen Überlegungen nicht in Betracht gezogen und somit auch nicht ihre strategische Wahrnehmung durch die Russische Föderation oder die Volksrepublik China.

Eine Stärkung von Raketenabwehr kann gegnerische nukleare Bedrohung einschränken bzw. ggf. negieren. Das wiederum kann durch den Einsatz einer höheren Stückzahl von nuklearen Sprengköpfen als angemessene Reaktion bewertet werden, um durch eine Saturation die gegnerische Abwehr zu durchbrechen.

Diese Sorge sollte mit dem ABM (Anti-Ballistic Missile Treaty) entgegengewirkt werden. Damals drängten insbesondere die USA auf ein Abkommen mit der Sowjetunion aus Sorge, dass eine fortschrittliche Raketenabwehr die nukleare Erst- und Zweitschlagfähigkeit gefährden würde. Ab Mitte der 1970er Jahre war die Angreifbarkeit des jeweiligen Bündnisgebietes als Teil einer erfolgreichen stabilen Abschreckung anerkannt. Die USA sahen darin eine gute Möglichkeit, ein Gleichgewicht beim Wettrüsten herbeizuführen und schafften somit eine Grundlage für Verhandlungen. Der ABM-Vertrag sorgte mit seiner Limitierung der Raketenabwehr für grundlegende Stabilität zwischen der Sowjetunion und den USA. Die Aufkündigung des Vertrages 2003 führte zu neuen Entwicklungen auf Grundlage geschürter Ängste mit der Einführung einer potenziellen Raketenabwehr. Insbesondere die Russische Föderation interpretierte diese Entwicklung als ernst zu nehmende Bedrohung für ihre strategischen und operativen nuklearen Waffensysteme. Die Indienststellung der neuen Systeme beginnend in 2018 zeigte diese Furcht auf. Alle neuen Waffensysteme haben die Eigenschaft, eine potenzielle Raketenabwehr zu umgehen oder von dieser nicht betroffen zu sein.

Auch von einzelnen NATO-Staaten wird Raketenabwehr vermehrt als eine Herausforderung für die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung wahrgenommen. Großbritanniens Ankündigung, die Anzahl seiner einsatzbereiten Sprengköpfe zu erhöhen, wurde mit dem Verweis auf den fortschreitenden Ausbau russischer Raketenabwehr begründet. Hier wirkt das Prinzip; eine erfolgreiche Raketenabwehr mindert den Wert der eigenen Bedrohung im Sinne der Abschreckung und setzt damit das eigene Abschreckungspotential herab.

Interaktion von konventionellen strategischen Effekten und Nuklearwaffen

Die Entwicklung von konventionellen Waffensystemen lässt zunehmend die Grenzen zwischen klassischer nuklearer und konventioneller Kriegsführung verschwimmen. Eine klassische Trennung von mit Nuklearwaffen geführten Operationen von konventionellen Waffen, wie im Kalten Krieg, ist heute nicht mehr gegeben. Es mag für den einen Staat ausreichen, einen Einsatz mit konventionellen Mitteln zu führen, um den gewünschten strategischen Effekt zu erreichen. Ein anderer Staat kann dadurch die Schwelle für den Einsatz taktischer, aber auch strategischer Atomwaffen als erreicht ansehen. Eine konventionelle Überlegenheit kann daher eine nukleare Gegenreaktion auslösen. Eine Möglichkeit, die die Nukleardoktrin der Russischen Föderation von 2020 benennt; Präzisionswaffen werden hierbei als Bedrohung, die als referierender Grund für einen frühzeitigen Einsatz von Nuklearwaffen dient, benannt.

Konventionelle Präzisionswaffen die insbesondere gegen Kommandozentralen eingesetzt werden, sind hierbei zu benennen. Nuklearwaffen bedürfen immer einer dauerhaften positiven Kontrolle durch die Führung eines Staates. Ist diese bedroht, ist ein Einsatz denkbar, um den Zugriff auf diese Waf fen nicht zu verlieren. Somit sollten konventionelle Präzisionswaffen auch unter ihrer strategischen Wirkung im nuklearen Abschreckungsspektrum betrachtet werden.

Ein TORNADO in einem Zelt im Rahmen des Einsatzes Counter Daesh. Foto: PIZ EinsFüKdo Bw
Ein TORNADO in einem Zelt im Rahmen des Einsatzes Counter Daesh.
Foto: PIZ EinsFüKdo Bw

Chinesische Fähigkeitsentwicklungen insbesondere im Bereich von konventionellen ballistischen Mittelstreckenraketen zeigen das Bedrohungspotenzial, das von diesen Waffen ausgehen kann. Diese könnten insbesondere die Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres betreffen und somit im erweiterten Sinne auch deutsche Interessen berühren. Nukleare Abschreckung kann somit nicht nur für Europa gedacht, sondern muss als ein globaler Aspekt gesehen werden.

Eine ungleklärte Frage in der Nuklearen Abschreckung: China

Die aktuelle Struktur der nuklearen Teilhabe ist in ihrem Kern auf die Russische Föderation ausgerichtet. Eine mögliche nukleare Bedrohungslage für Europa durch die Chinesische Volksrepublik wird hierbei nicht berücksichtigt. Aktuelle chinesische Entwicklungen im Bereich von Interkontinentalraketen, wie etwa der DF-41, müssen in zukünftige Überlegungen miteinbezogen werden. Der Konflikt um Taiwan birgt das Potential, nukleare Drohungen gegenüber europäischen Staaten nach sich zu ziehen, um somit ein direktes militärisches Eingreifen durch westliche Staaten zu vermeiden. Insbesondere die quantitative Aufrüstung im Bereich von landgestützten Systemen in der Provinz Xinjiang deutet auf eine Wende in der Nuklearstrategie der Volksrepublik China hin. Die bisherige Strategie der minimalen Abschreckung würde hierbei im Interesse der wachsenden strategischen Bedeutung Chinas aufgegeben.

Russlands erfolgreiche Abschreckungsstrategie, ein direktes Eingreifen westlicher Staaten bei der Invasion zu vermeiden, könnte als strategische Option für eine mögliche Invasion Taiwans gesehen werden. Eine Möglichkeit, Europa mit strategischen Nuklearwaffen direkt bedrohen zu können, wird die Reaktionsfähigkeit europäischer Staaten erheblich beeinträchtigen.

NATO und nukleare Fähigkeiten

Aktuell verfügen drei NATO-Staaten, Frankreich, Großbritannien und die USA, über Nuklearwaffen. Frankreich und Großbritannien verfügen jedoch zum Großteil nur über strategische Uboot-gestützte Waffensysteme. Diese Systeme sind auf die Aufgabe als Zweitschlagfähigkeit ausgerichtet und sollen eine Überlebensgarantie der Staaten gegen einen nuklear geführten Angriff sichern. Die strategischen Uboot-gestützten Raketen (SLBN) sind jedoch für den Einsatz auf einem Gefechtsfeld ungeeignet. Die Kontrahenten könnten deren Abschuss als eine strategische Eskalation wahrnehmen, wenn diese im Rahmen einer begrenzten Antwort eingesetzt würden.

Frankreichs Sichtweise auf nukleare Abschreckung unterscheidet sich zudem fundamental von den übrigen NATO-Staaten. Während nukleare Eskalationsdynamiken und deren Kontrolle im Fokus der übrigen NATO steht, sieht Frankreich einen nuklearen Konflikt immer als einen Konflikt bis zum Äußersten an, der den Einsatz des gesamten nuklearen Arsenals rechtfertigt. Abstufungen erfolgen nur im Sinne eines Warnschusses mit einer substrategischen Nuklearwaffe. Eine Klärung dieser Kontroverse ist derzeit nicht in Sicht. Offizielle Verlautbarungen innerhalb der NATO tendieren dazu, eine Unberechenbarkeit für einen Angreifer herauszustellen. Das birgt jedoch die Gefahr einer Eskalation durch mangelnde Berechenbarkeit und die daraus resultierenden erkennbaren Möglichkeiten des Handelns.

Letztlich bleiben die USA der entscheidende Träger nuklearer Abschreckung innerhalb der NATO. Das US Strategic Command bietet eine abgestufte Triade mit luft- und seegestützten Fähigkeiten. Die US-Streitkräfte haben, unter dem Eindruck des Ukrainekrieges, jedoch damit begonnen, Kurz- und Mittelstreckenraketen mit konventionellen Sprengköpfen in ihre Überlegungen von Schlägen in der Tiefe des Raumes wieder einzusetzen. Der Wegfall des INF-Vertrages und die Bedrohungslage durch die Russische Föderation und die Volksrepublik China, machen diesen Schritt unausweichlich.

Ersatzdebatte und F-35A

Die nationale Sicherheitsstrategie von 2023 stellt die Wichtigkeit nuklearer Abschreckung im Rahmen der NATO und den anderen Verbündeten heraus. Sie vermeidet jedoch, klar Stellung bzgl. der Ausrichtung der nuklearen Teilhabe zu beziehen.

Der aktuelle öffentlich geführte Diskurs liegt auf dem Ersatz des TORNADO IDS mit der F-35A und überlagert damit tiefgreifende strukturelle Probleme der nuklearen Teilhabe in der Geopolitik des 21. Jahrhunderts. Festzustellen ist, dass sich die Bedrohungslage geographisch verschoben hat. Deutschland ist nun nicht mehr ein Frontstaat der NATO. Es bildet aber den rückwärtigen Raum.

Piloten mit einer Nachtsichtbrille im Cockpit des Tornados 46+45 im Rahmen der Mission Counter Dash in Incirlik, Türkei, am 14.04.2016
Piloten mit einer Nachtsichtbrille im Cockpit des Tornados 46+45 im Rahmen der Mission Counter Dash in Incirlik, Türkei.
Foto: Bundeswehr / Oliver Pieper

Anti-Acess/Aerial Denial (A2/AD)-Strukturen, wie etwa Luftabwehrsysteme des Typs S300/400/500 der Russischen Föderation, würden einen Waffeneinsatz deutlich erschweren. Der Deutschen Luftwaffe stehen derzeit Maschinen in nicht ausreichender Anzahl für einen solchen Einsatz zur Verfügung. Die Russische Föderation könnte zudem diesen Einsatz vorhersehen und durch die Aufklärung der wenigen Maschinen erschweren. Somit kann die Frage nach der Glaubhaftigkeit der Ernsthaftigkeit nuklearer Abschreckungsabsichten – eine zentrale These der nuklearen Abschreckung – nicht einfach beantwortet werden. Im Zweifel könnte die Russische Föderation die Glaubhaftigkeit anzweifeln und ihren Spielraum für Eskalation ausgedehnter interpretieren und ggf. austesten. Dies gilt es gerade durch die Effekte der nuklearen Teilhabe zu vermeiden. Derzeit bestehen ersthafte Zweifel an der aktuellen Ausrichtung der Nuklearstrategie der USA durch deren Ausrichtung auf die strategische Ebene. Die Außerdienststellung der B-83-Freifallatomwaffe für den B-2A, dem strategischen Bomber, sowie die nicht Beschaffung eines nuklear bestückbaren seegestützten Marschflugkörpers, zeigen die begrenzten Möglichkeiten der US-Triade auf.

Insbesondere die Flugeigenschaften eines nuklearwaffenfähigen Marschflugkörpers bieten den nötigen Spielraum im taktischen oder operativen Bereich, um nuklearer Eskalation frühzeitig Einhalt zu gebieten. Die Ausrüstung der F-35A mit einer abstandsfähigen Waffe würde die Durchsetzungsfähigkeit gegen russische Flugabwehrsysteme deutlich erhöhen. Eine Einführung eines abstandsfähigen nuklearwaffenfähigen Wirkungsmittels ist jedoch derzeit nicht angedacht. Die F-35A muss zudem von längeren Startbahnen aus operieren, was diese deutlich in ihrer Flexibilität einschränkt. Dies verstärkt auch die Bedrohungslage für die F-35A als Ziele für russische Mittelstreckenraketen. Auch reicht ihre effektive Reichweite nicht aus, um alle potenziellen/strategisch wichtigen Ziele in der Russischen Föderation ernsthaft zu bedrohen.

Russische Verbringungssysteme umfassen aktuell neben Freifallatomwaffen (wie aktuell in Belarus) Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie strategische Waffensysteme. Diese Bandbreite bietet somit die Möglichkeit für die Russische Föderation, Schläge unterhalb der Schwelle eines strategischen Waffeneinsatzes auszuführen. Ein Szenario, auf das die NATO und insbesondere Deutschland nicht vorbereitet zu sein scheint.

Die NATO wird nicht umhinkommen, eine Debatte über eine Nuklearstrategie zu führen. Konventionelle Fähigkeiten können dabei den nötigen Spielraum bieten, insbesondere bei der Einführung von Hyperschallmittelstreckenraketen, wie etwa gerade durch die USA. Russische Verlautbarungen unter anderem in Doktrinen von 2020 deuten daraufhin, dass gerade westliche konventionelle Präzisionswaffen als abschreckend wahrgenommen werden.

Zukunft der Abschreckung

Die erweiterte Abschreckung der USA wird für eine vorhersehbare Zukunft die Grundlage der Sicherheit Europas und insbesondere Deutschlands sein. Für eine dauerhafte und glaubhafte Abschreckung müssen Abstimmungsschwierigkeiten in Bezug auf die Zielsetzung von nuklearer Teilhabe hinreichend zwischen den Verbündeten Frankreich, Großbritannien und den USA geklärt werden. Davon abgesehen werden sich politische Entscheider in der nahen Zukunft der Wichtigkeit der Frage von multiplen Abstufungen der aufzubauenden Fähigkeiten stellen müssen.

Nukleare Abschreckung kann den elementaren Schutz vor größeren Kriegen bilden und darf daher nicht mit dem gänzlichen Verzicht auf Krieg gleichgesetzt werden. Abschreckungstheoriemodelle müssen sich dennoch fortentwickeln. Die NATO kommt nicht umhin, sich den aktuellen Bemühungen einiger Staaten, die Nuklearwaffen besitzen, diese mit geringerer Sprengkraft potenziell auf dem Gefechtsfeld einzusetzen, zu stellen und sollte diese daher auch in die Verteidigungsplanungen der NATO und Deutschlands mit einbeziehen.

Darüber hinaus werden integrierte Luft- und Raketenabwehr-Systeme durch den technologischen Fortschritt über kurz oder lang die nukleare Rüstung beeinflussen. Insbesondere die Perzeption von Raketenabwehr kann zu einem Sicherheitsdilemma zwischen den Parteien führen, auch wenn dies nicht intendiert ist. Es bleibt somit entscheidend, dass die Rolle Deutschlands innerhalb der nuklearen Teilhabe neu gedacht werden muss und der Einfluss in den NATO-Gremien (z. B. der Nuklearen Planungsgruppe) weiter ausgebaut wird. Den Status Quo fortzuführen ist hinsichtlich der aggressiven Außenpolitik der Russischen Föderation aber auch der Volksrepublik China in Zukunft nicht mehr zu verantworten.

Es bleibt festzustellen, dass Nuklearwaffen nach wie vor einen ernsthaften Schutz vor Kriegen zwischen Großmächten oder Allianzen bieten. Somit würde ein Beitritt Deutschlands zum Nuklearwaffenverbotsvertrag die Sicherheit der Bundesrepublik ernsthaft gefährden.

Severin Pleyer,
Wissenschaftsoffizier am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Insbesondere Strategische Theorie, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg

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