„Fünf bis sieben zusätzlichen Brigaden für Deutschland“ – General a.D. Zorn im Interview

Von 2018 bis 2023 war General a.D. Eberhard Zorn der Generalinspekteur der Bundeswehr. In diese Zeit fielen sowohl der russische Angriff auf die Ukraine als auch der Beginn der deutschen Zeitenwende. Im Interview mit CPM Defence Network gibt General a.D. Zorn Einblicke in die dringendsten Defizite, die aktuellen Gestaltungsmöglichkeiten und was die NATO jetzt von Deutschland und der Bundeswehr konkret erwartet. Das Interview führte Tobias Ehlke.

General a.D. Eberhard Zorn in seiner aktiven Zeit als Generalinspekteur der Bundeswehr beim Besuch von Soldaten vom deutschen Heeres in Munster.
General a.D. Eberhard Zorn in seiner aktiven Zeit als Generalinspekteur der Bundeswehr beim Besuch von Soldaten vom deutschen Heeres in Munster.
Foto: Bundeswehr/photothek.net/Thomas Imo
Herr General, ich möchte mit den neuen finanziellen Spielräumen für die Bundeswehr beginnen, die Deutschland gerade geschaffen hat. Sie haben bereits über das erste Sondervermögen gesprochen – jetzt fließen deutlich mehr Mittel. Welche strategischen Ziele sollte die Bundeswehr mit diesen Freiräumen vorrangig verfolgen?

Zunächst ein kurzer Rückblick: Ende 2021 – also zum Beginn der letzten Legislaturperiode – hatten wir gründlich analysiert, was die NATO an Fähigkeiten von uns verlangt und wo wir selbst Lücken sehen. Parallel wurde das 2-Prozent-Ziel robuster als sonst kommuniziert. Rückblickend hat es gut zehn Jahre gedauert, bis wir diesen Wert ernsthaft erreichten. Hier werden wir künftig deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müssen.

Die 100 Milliarden Euro waren dafür gedacht, große, bereits vorbereitete Projekte zügig zu starten. Die meisten Verträge sind mittlerweile unterzeichnet, doch Rüstungsprozesse brauchen Zeit: Gesetzliche Grundlagen, Ausschreibungen, Vertragsverhandlungen – und natürlich musste unsere Industrie erst ihre Kapazitäten hochfahren.

Realistisch kommt der Großteil der neuen Systeme 2028 bis 2030 in der Truppe an. Dabei haben wir auf Rahmenverträge gesetzt, die zwar große Stückzahlen ermöglichen, aber zunächst nur erste Lose umfassen. Um nachhaltig planen zu können, braucht die Industrie, insbesondere der Mittelstand und die Zulieferer, jedoch klare Zusagen über längere Zeiträume. Angesichts der Bedrohungslage gilt es, deutlich das Tempo zu erhöhen.  

Inhaltlich fehlen in der 100-Milliarden-Planung größere Ansätze für Innovation (z. B. Drohnen, KI und Quantentechnologie) sowie konsequente Maßnahmen in der Digitalisierung. Wir hinken außerdem bei Munition, Ersatzteilen und Infrastruktur hinterher. Hier brauchen wir dringend ausreichende Lagerbestände und entsprechende Lager- und Depotinfrastrukturen, um die Einsatz- und Durchhaltefähigkeit zu sichern.

Die Luftwaffe wurde bisher am stärksten modernisiert; auch die Marine profitiert bereits, obwohl Schiffsprojekte naturgemäß länger dauern. Den Hauptbedarf sehe ich beim Heer: Wir brauchen moderne Systeme, Robotik, Drohnen und eine wirklich vollständige Ausstattung jeder Brigade in der gesamten Breite unserer Truppe – idealerweise inklusive Material-Reserve. Das größte Nadelöhr ist jedoch das Personal. Wir werden künftig rund 250.000 aktive Soldaten brauchen, unsere Reserve muss zur Erhöhung der Durchhaltefähigkeit deutlich aufwachsen

„Das größte Nadelöhr ist definitiv das Personal.“

Man hört von einem Investitionsbedarf zwischen 250 und 300 Milliarden Euro. Passt das zu Ihren Erfahrungen?

Ja, diese Summe kommt ungefähr hin. Die Wehrbeauftragte nannte 300 Milliarden als Gesamtrahmen, wobei allein 20 Milliarden für Munition vorgesehen sind, um bis 2032 den NATO-Vorgaben zu genügen. In die Infrastruktur müssen ebenfalls hohe Beträge fließen, unter anderem für Bauvorhaben und energetische Sanierung.

Das bedeutet, dass der Verteidigungshaushalt jährlich bei 90, eher 100 Mrd Euro liegen muss. Das Geld muss aber auch ausgegeben werden können. Unsere kameralistische Haushaltsführung erschwert das, weil ungenutztes Budget nicht einfach ins nächste Jahr übertragbar ist.

Zudem blockieren uns manche Vorschriften. Die 25-Millionen-Vorlage ist dafür ein Beispiel: Jedes Projekt oberhalb dieser Summe erfordert extrem aufwendige Vorlagen an den Bundestag. Man könnte die Grenze anheben oder das Verfahren anderweitig vereinfachen, um Bürokratie zu reduzieren und den Prozess zu beschleunigen.

„Es gibt zahlreiche bürokratische Hürden, die wir abbauen sollten, etwa die 25-Millionen-Vorlage.“

Die NATO plant eine neue „Force Model“-Struktur. Es hieß, Deutschland solle vielleicht drei Brigaden stellen. Andere sprechen von deutlich mehr. Können Sie das einschätzen?

Die Rede ist von fünf bis sieben zusätzlichen Brigaden für Deutschland. Jede Brigade bringt ihre Enabler mit, von Artillerie bis Logistik. Das würde auf zwei zusätzliche Divisionen hinauslaufen, neben unseren bestehenden drei – die ohnehin noch nicht voll ausgestattet sind.

Die NATO braucht zur Verteidigungsfähigkeit Truppen und Training. Hier eine Übung der Allied Reaction Force (ARF) in Rumänien im Februar 2025.
Die NATO braucht zur Verteidigungsfähigkeit Truppen und Training. Hier eine Übung der Allied Reaction Force (ARF) in Rumänien im Februar 2025.
Foto: NATO

Materiell ließe sich das stemmen, wenn die Industrie Planungssicherheit hat. Personell wird es schwieriger, zumal das Heer sehr mannschaftsintensiv ist. Viele fordern daher die (Wieder-)Einführung der Wehrpflicht. Ich persönlich denke perspektivisch sogar an eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen, mit Wahlmöglichkeiten – aber der organisatorische und infrastrukturelle Vorlauf wäre enorm.

Angesichts der Bedrohungslage brauchen wir deshalb diese Entscheidung sofort mit Beginn der Legislaturperiode.

„Personell wird es schwieriger: Das Heer ist sehr mannschaftsintensiv und braucht dringend genügend Soldatinnen und Soldaten.“

Wie passt das in die europäische Sicherheitsarchitektur? Könnte die EU ein eigenes Verteidigungshauptquartier aufbauen oder drohen Doppelstrukturen zur NATO?

Ein „europäischer Pfeiler“ in der NATO ist seit langem Thema. Die militärische Zusammenarbeit der Europäer funktioniert auf Truppenebene schon gut. Auf Führungsebene fehlt jedoch ein leistungsstarkes EU-Hauptquartier wie SHAPE. Doppelstrukturen müssen wir vermeiden. Eher geht es darum, eine europäische Koalition der Willigen zu bilden und vorhandene Strukturen für diese weiter zu entwickeln.

Zudem sind wir eng mit den USA verflochten, und die NATO selbst hat sich über Jahrzehnte bewährt. Der US-Schutzschirm – vor allem in nuklearer Hinsicht – bleibt zentral, solange Europa keine eigene, glaubwürdige Abschreckung aufbauen kann. Parallel streben wir in Teilbereichen mehr Unabhängigkeit an, siehe die European Sky Shield Initiative (ESSI). Hier bauen wir eine gemeinsame europäische Luftverteidigung auf.

„Wir Europäer sollten enger kooperieren; dennoch bleibt der US-Schutzschirm auf Jahre unverzichtbar.“

Stichwort hybride Kriegsführung: Seit 2014 bedroht Russland uns durch Desinformation, Cyberangriffe und Ähnliches. Droht eine weitere Eskalation?

Hybride Methoden wie Spionage, Sabotage oder Desinformation haben eine lange Geschichte. Neu ist, wie sehr digitale Kanäle das Ganze verstärken. Russland will unsere Gesellschaften spalten, die transatlantische Bindung schwächen und letztlich zu einer neuen globalen Sicherheitsordnung kommen. Ob es zu einem direkten Angriff auf die NATO kommt, ist unklar; aber Russland könnte bei sich bietender Gelegenheit andere Schauplätze eröffnen, wie Moldau oder Georgien.

Wir müssen vor allem resilienter werden: im Cyberbereich, bei kritischer Infrastruktur und in der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Ein Nationaler Sicherheitsrat könnte die Maßnahmen dazu bündeln. Der Bundessicherheitsrat existiert zwar, aber eher im Verborgenen. Für echte Krisenkoordination braucht es eine transparente Struktur.

„Wir sollten vor allem unsere Resilienz stärken, von Cyberabwehr bis kritische Infrastruktur.“

Kommen wir zur Modernisierung und Kooperation. Welche Bereiche sind aus Ihrer Sicht besonders dringend?

Munition jeder Art, vor allem Loitering Amunition und Deep Strike-Fähigkeiten, ist elementar: Ohne Vorräte kann selbst modernstes Gerät nicht wirken. Ebenso wichtig sind Aufklärung (inklusive Weltraumkapazitäten), bewaffnete und Aufklärungsdrohnen, – und durchgehende Digitalisierung in den Führungs- und Kommunikationssystemen. Wir müssen mit unseren Partnern sicherstellen, dass wir Insellösungen vermeiden, Software-Updates und Modernisierung synchron halten,

 Prozesse straffen und uns auf gemeinsame Standards einigen.

„Munition, Drohnen und Digitalisierung gehören ganz oben auf die Liste – natürlich eng abgestimmt mit der Industrie.“

Welche positiven Beispiele für Rüstungskooperation haben Sie erlebt?

Panzerhaubitze 2000, Leopard-Kampfpanzer oder Radpanzer Boxer sind Paradebeispiele: enge Abstimmung, hohe Qualität, mehrere Partnerländer. Komplex wird es, wenn Nationen nachträglich unterschiedliche Modernisierungswege einschlagen – dann driften Software und Hardware auseinander. Für die Zukunft brauchen wir gemeinsame Upgrade-Pfade, um Einsatzbereitschaft und Kompatibilität zu erhalten.

Die Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg zeigen den immensen Bedarf an Artilleriemunition aufgrund des enormen Verbrauchs. Die Vorgabe der NATO lautet deshalb: Munition für 30 Tage.
Die Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg zeigen den immensen Bedarf an Artilleriemunition aufgrund des enormen Verbrauchs. Die Vorgabe der NATO lautet deshalb: Munition für 30 Tage.
Foto: Bundeswehr/Marco Dorow

„Kooperation klappte sehr gut bei der Panzerhaubitze 2000, beim Leoparden und beim Boxer. Entscheidend ist, dass wir Upgrades weiter gemeinsam entwickeln.“

Abschließend: Welche Rolle spielt die Innere Führung dabei? Ist das Konzept „Staatsbürger in Uniform“ noch zeitgemäß?

Absolut. Die Innere Führung beantwortet die Frage „Wofür dienen und kämpfen wir?“ und gibt einen soliden Wertekompaß.. Wer neu eintritt, bringt oft ganz unterschiedliche Hintergründe mit – da sind demokratische Bildung, ethische Maßstäbe und politisches Verständnis unverzichtbar.

Unsere Auftragstaktik erlaubt es, schnelle Entscheidungen auch auf tieferen Ebenen zu treffen. Das macht uns flexibel.

Und unsere Grundsätze der Menschenführung sowie die Ausbildung unserer Führungskräfte brauchen sich im internationalen wie auch im Vergleich mit der Wirtschaft nicht zu verstecken.

„Innere Führung bleibt unverzichtbar, um den Sinn des Dienens zu vermitteln – verbunden mit demokratischen Werten und einem klaren Verantwortungskonzept.“

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr General! Das war ein äußerst aufschlussreicher Blick auf aktuelle Herausforderungen und mögliche Wege für die Bundeswehr.
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