Proteste in Tiflis – Zwischen EU-Hoffnung und russischer Einmischung

Tiflis, 22:00 Uhr – Rauchschwaden ziehen durch die Luft, die grellen Strahlen von Laserpointern schneiden durch die Dunkelheit. Tausende Demonstranten mit Schutzbrillen und Schals vor dem Gesicht stemmen sich gegen die Wasserwerfer, die sie langsam die Shota-Rustaveli-Straße hinaufdrängen. Vom Park des 9. April, der lange als sichere Zuflucht galt, kommen besorgniserregende Nachrichten über die Proteste in Tiflis: Maskierte Schlägertrupps, teils mit verdeckt getragenen Waffen, überfallen Demonstranten. Die Polizei steht tatenlos daneben. Es ist der neueste Höhepunkt in einem Machtkampf, der Georgien an den Rand einer Entscheidung bringt: Bleibt das Land auf dem Weg in die EU – oder driftet es in den Einflussbereich Russlands?

Graffito in Tiflis zeigt anti-russische Schriftzüge neben den Flaggen der Ukraine, der EU und von Georgien.
Graffito in Tiflis zeigt anti-russische Schriftzüge neben den Flaggen der Ukraine, der EU und von Georgien.
Foto: cpm / Connor Rehn

Der politische Umbruch in Georgien wurde durch die Entscheidung der Regierung ausgelöst, den EU-Beitrittsprozess bis 2028 auszusetzen. Die nationalkonservative Regierungspartei „Georgischer Traum“ unter Premierminister Irakli Kobachidse begründet dies mit „nationalen Interessen“ und einer Vermeidung von „fremder Einmischung“. Die Opposition sieht darin jedoch einen Versuch, das Land unter russischen Einfluss zu bringen. Das Europäische Parlament hat die georgische Parlamentswahl im Oktober 2024 wegen Unregelmäßigkeiten angefochten und Neuwahlen gefordert.

Georgien, ein Land an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien, sieht sich in einem geopolitischen Tauziehen. Seit der russischen Invasion 2008 und der Besetzung von Südossetien und Abchasien bleibt die Sorge groß, dass Moskau seine Kontrolle weiter ausdehnen könnte.

Proteste und Dynamik auf der Straße

Tagsüber bleibt es in Tiflis oft ruhig. Nur kleinere Gruppen von 100 bis 200 Menschen stehen vor dem Parlament, doch nach Einbruch der Dunkelheit verändert sich das Bild schlagartig. Die Shota-Rustaveli-Straße füllt sich mit Tausenden von Demonstranten. Ihre Gesichter sind verhüllt, sie tragen Schutzbrillen, und einige von ihnen sind mit Laserpointern ausgestattet, um die Polizeikräfte zu blenden. Feuerwerkskörper und Rauchbomben sind häufige Mittel des Protests.

Wollen in Richtung EU – Protestierende in der georgischen Hauptstadt Tiflis.
Wollen in Richtung EU – Protestierende in der georgischen Hauptstadt Tiflis.
Foto: cpm / Connor Rehn

Die Polizei hat die Lesia-Ukrainka-Straße, die das Parlament von Norden flankiert, abgeriegelt und drängt Demonstranten von dort in Richtung Shota-Rustaveli-Straße. Unterstützt wird das Vorgehen durch Wasserwerfer chinesischer Bauart, die aus nördlicher und westlicher Richtung vorrücken.

Besonders brisant ist die Rolle der unmarkierten Schlägertrupps in Tiflis, die Demonstranten im Park des 9. April angreifen. Dort, wo die Menschen bislang Schutz suchten, greifen die vermummten Gruppen gezielt Oppositionelle und Pressevertreter an. Die Polizei bleibt tatenlos, obwohl Videoaufnahmen dokumentieren, wie die Schläger in Anwesenheit der Beamten auf Demonstranten einprügeln.

Vor Ort berichteten Demonstranten und Journalisten von den möglichen Hintermännern dieser Schläger. Einige sollen aus dem Nordkaukasus stammen und Verbindungen zum russischen Geheimdienst (FSB) haben. Insbesondere wird der Name Otar Partskhaladze genannt – ein sanktionierter FSB-Agent. Ein Video aus Tiflis zeigt, wie einer der Schläger eine verdeckt getragene Kurzwaffe zieht und damit Demonstranten bedroht.

Das georgische Militär: Geteilte Meinungen und strategische Herausforderungen

Aus Kreisen des georgischen Militärs hört man unterschiedliche Einschätzungen zur aktuellen Lage. Einige Offiziere, die anonym bleiben möchten, glauben nicht, dass Russland derzeit die Kapazitäten für eine groß angelegte Invasion Georgiens habe. Sie verweisen auf die geographischen Gegebenheiten: Die drei möglichen Invasionsrouten durch das bergige Terrain Georgiens sind strategisch gut zu verteidigen.

Medien begleiten den Pro-EU-Protest in Georgien.
Medien begleiten den Pro-EU-Protest in Georgien.
Foto: cpm / Connor Rehn

Andere Offiziere sehen die Lage kritischer. Sie berichten von der Sorge, dass die Regierung gezielt Einfluss auf das Militär nehme. Dem Autor wurden konkrete Hinweise vorgelegt, dass Offiziere hinsichtlich ihrer politischen Ansichten überprüft werden. Diese Praxis weckt bei vielen Soldaten die Angst, dass das Militär auch im Inneren gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden könnte – ein Tabubruch in der Geschichte der georgischen Streitkräfte.

Unabhängig von der politischen Lage sind sich die militärischen Quellen in einem Punkt einig: Die georgischen Streitkräfte benötigen dringend eine verbesserte Luftabwehr. Aufgrund des schwierigen Terrains könnte eine mögliche Invasion Russlands nur mit Lufthoheit erfolgreich sein. Die derzeitige Luftabwehr Georgiens wird von Offizieren als unzureichend angesehen. Eine gezielte Verstärkung dieser Verteidigungskomponente wäre daher von strategischer Bedeutung.

Proteste in Tiflis – Analyse und Ausblick

Die Lage in Georgien bleibt angespannt. Auf den Straßen Tiflis’ spiegelt sich die tiefe Spaltung der georgischen Gesellschaft wider. Die Befürworter der Regierungspartei „Georgischer Traum“ betonen, dass Georgien nicht zur „Marionette der EU“ werden dürfe, während die Regierungsgegner befürchten, das Land könnte zu einem weiteren Vasallenstaat Russlands verkommen.

Abendliche Proteste in Tiflis.
Abendliche Proteste in Tiflis.
Foto: cpm / Connor Rehn

Die Nähe der Regierung zu Russland wird durch die Tatenlosigkeit der Polizei gegenüber den Schlägertrupps verstärkt. Wenn Demonstranten, Journalisten und bekannte Oppositionelle im Dunkel des Parks des 9. April angegriffen werden und die Polizei nur zuschaut, ist die Botschaft klar: Diese Gewalt ist geduldet – vielleicht sogar beabsichtigt.

Auf der geopolitischen Ebene sieht sich Georgien in einer heiklen Position. Das Land ist strategisch wichtig für den Transport von Energieressourcen aus Aserbaidschan und Kasachstan. Wenn Georgien die EU aus seinem politischen Prozess ausschließt, könnte es in eine stärkere Abhängigkeit von Russland geraten.

Fazit

Die Demonstrationen in Tiflis sind mehr als nur eine politische Auseinandersetzung – sie sind ein Symbol für die tiefgreifende Identitätskrise des Landes. Georgien steht am Scheideweg: Richtung EU oder Richtung Russland? Während die Polizei Wasserwerfer und Schlägertrupps einsetzt, um die Demonstranten zu zerstreuen, wird der internationale Druck auf die georgische Regierung wachsen. Doch ob dieser Druck ausreicht, um die Regierung in Tiflis zu einem Umdenken zu bewegen, bleibt ungewiss.

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