ESSI: Deutschlands Schlüsselrolle in Europas Luftverteidigung

„Der Himmel gehörte de facto den eigenen fliegenden Waffensystemen“, erinnerte Brigadegeneral Volker Samanns an den jahrelangen Rückbau Deutschlands und vieler andere NATO-Staaten im Bereich der Luftverteidigung. „Nach der Annexion der Krim durch Russland und spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, verstärkte die NATO und auch Deutschland die Bemühungen, wieder eine in Quantität und Qualität schlagkräftige bodengebundene Luftverteidigung zum Schutz des Bündnisgebietes und der Bevölkerung aufzubauen.“ In unserem Interview sprach Brigadegeneral Sammans über die Erfolge und Herausforderungen von ESSI, die sich seit ihrer Gründung vor einem Jahr zu einem wichtigen Baustein für Europas Sicherheit entwickelt hat. Das Interview führte Rainer Krug.

ESSI: Das System ASUL, Abwehrsystem unbemannter Luftfahrzeuge, steht im deutschen Camp in Konstanza/Rumänien während der NATO-Mission enhanced Air Policing South (eAPS). Foto: Bundeswehr / Patrik Bransmöller
Das System ASUL, Abwehrsystem unbemannter Luftfahrzeuge, steht im deutschen Camp in Konstanza/Rumänien während der NATO-Mission enhanced Air Policing South (eAPS).
Foto: Bundeswehr / Patrik Bransmöller
Vor einem Jahr etwa wurde die Europäische Sky Shield Initiative „aus der Taufe“ gehoben. Wie sind Sie als Verantwortlicher für die bodengebundene Luftverteidigung in Deutschland in diese Initiative eingebunden und was hat sich seit der Gründung der Initiative getan?

Deutschland spielt bei der European Sky Shield Initiative (ESSI) eine führende Rolle. Es geht mir dabei vor allem um die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO-Luftverteidigung. ESSI hat von Beginn an großen Anklang gefunden. Die Initiative ist durch den Beitritt Griechenlands und der Türkei von ursprünglich 15 „Gründungsmitgliedern“ auf nun stolze 21 Nationen angewachsen.

Ursprünglich stand bei ESSI die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Luftverteidigungssystemen und -Komponenten mit den entsprechenden Synergieeffekten im Vordergrund. Hier haben wir bereits einige beachtliche Erfolge erzielt. So beschaffen z. B. Deutschland und andere Partnernationen gemeinsam bis zu 1.000 Lenkflugkörper für das Waffensystem PATRIOT.

Darüber hinaus schließen sich mehr und mehr der ESSI-Partner unserer Beschaffung des Waffensystems IRIS-T SLM an. Slowenien hat am 25. Januar 2024 einen entsprechenden Beschaffungsvertrag unterzeichnet. Damit ist Slowenien neben Deutschland, Estland und Lettland nunmehr die vierte Nation, die mit uns diesen Weg geht.

ESSI bietet über die reine Rüstungskooperation hinaus aber auch weiteres Kooperationspotenzial für eine besser integrierte bodengebundene Luftverteidigung – Beispiel Ausbildung. Hier haben wir erste konkrete Schritte mit den ESSI-Partnern unternommen. Wir haben gemeinsam und sehr genau die verschiedenen Ausbildungsbedarfe in einem Workshop im November 2023 in Köln analysiert.

Bereits in diesem Jahr wollen wir am European Air and Missile Defence Training Center in Todendorf erstmals einen auf die ESSI-Partner zugeschnittenen Lehrgang zu Grundlagen der Integrierten NATO-Luftverteidigung anbieten. Zudem arbeiten wir weiter mit den ESSI-Partnern konsequent an zusätzlichen gemeinsamen Lehrgängen und Übungen.

Welche Auswirkungen hatte aus Ihrer Sicht die weitere Entwicklung des letzten Jahres im Ukraine-Konflikt auf unsere nationalen Luftverteidigungsplanungen? Hat sich ESSI hier als hilfreich erwiesen?

Nach Ende des Kalten Krieges sah sich die NATO in den Auslandseinsätzen der vergangenen Jahrzehnte keiner nennenswerten Bedrohung aus der Luft ausgesetzt. Der Himmel gehörte de facto den eigenen fliegenden Waffensystemen – dies garantierte zumindest aus der Luft die Bewegungsfreiheit der Kräfte am Boden. Tatsächlich reduzierten viele unserer Bündnispartner – wie wir auch – die Kräfte der eigenen bodengebundenen Luftverteidigung investierten wenig in deren Modernisierung oder gaben ganze Fähigkeiten vollständig auf.

Nach der Annexion der Krim durch Russland und spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, verstärkte die NATO und auch Deutschland die Bemühungen, wieder eine in Quantität und Qualität schlagkräftige bodengebundene Luftverteidigung zum Schutz des Bündnisgebietes und der Bevölkerung aufzubauen. Dieser Wiederaufbau ist noch lange nicht abgeschlossen, aber wir haben in Deutschland die notwendigen Beschaffungsentscheidungen dafür getroffen und ESSI hat sich als bedeutsamer Katalysator und wichtiger Baustein dieser Ertüchtigung erwiesen.

IRIS-T SLM ist – so weit für uns erkennbar – für die Luftverteidigungsfähigkeit der Ukraine ein höchst bedeutungsvoller Baustein geworden. Auch Deutschland beschafft dieses Waffensystem. Wie sehen die weiteren Planungen hinsichtlich der Vorbereitung der Einführung des Waffensystems aus und welche Rolle spielt Deutschland dabei für (mögliche) weitere IRIS-T-Partnernationen?

Das Waffensystem IRIS-T SLM bewährt sich jeden Tag im Einsatz durch die ukrainischen Streitkräfte. IRIS-T SLM deckt einen Einsatzbereich ab, in dem wir seit Jahren eine Fähigkeitslücke haben. Insofern war die Entscheidung zur Beschaffung von IRIS-T SLM-Systemen folgerichtig und – ganz wichtig: Wir bekommen schnell ein einsatzerprobtes System.

Diese Geschwindigkeit ist dem herausragenden Engagement der vielen Projektbeteiligten zu verdanken. Alle haben an einem Strang gezogen – in dieselbe Richtung – und somit dazu beigetragen, dass sich der Begriff der „Zeitenwende“ konkret und zeitnah in einem Fähigkeitszugewinn manifestiert. Dies war auch ein klares Signal in die Bundeswehr hinein sowie an unsere Partner: Wenn es schnell gehen muss, geht es auch schnell! Und wir haben verdeutlicht, dass es uns mit ESSI ernst ist.

Der Flugkörper AQUILA, an dessen Konzeption MBDA derzeit im Rahmen von HYDIS2 arbeitet, wird künftig einen maßgeblichen Beitrag zur Verteidigung gegen Hyperschallwaffen leisten. Illustration: MBDA
Der Flugkörper AQUILA, an dessen Konzeption MBDA derzeit im Rahmen von HYDIS2 arbeitet, wird künftig einen maßgeblichen Beitrag zur Verteidigung gegen Hyperschallwaffen leisten.
Illustration: MBDA

Bereits dieses Jahr wird das erste System für ESSI an die Bundeswehr ausgeliefert und somit eine Anfangsbefähigung in der Luftwaffe hergestellt. In den nächsten Jahren werden dann weitere Systeme zulaufen. 2027 soll die Luftwaffe über sechs operationell einsetzbare Systeme verfügen. Beheimatet wird das System IRIS-T SLM dann in der Flugabwehrraketengruppe 61 in Todendorf.

Über die reine Rüstungskooperation hinaus hat der Inspekteur der Luftwaffe den Air Chiefs der ESSI-Nationen im September 2023 in Todendorf am sogenannten „ESSI Air Chiefs Day“ angeboten, auch die Ausbildung am System IRIS-T gemeinsam durchzuführen. In Todendorf schuf die Luftwaffe zusammen mit der Fa. Diehl innerhalb weniger Monate eine Ausbildungsinfrastruktur zur Ausbildung ukrainischer Soldaten, die sich hierfür ideal eignet. Zudem legen wir damit auch einen weiteren Grundstein für ein zukünftiges „European Air and Missile Defense Training Center“.

An einer solchen Ausbildungseinrichtung wollen wir Luftverteidigungsexperten verschiedener Nationen sowie unterschiedlicher Führungsebenen und Waffensysteme gemeinsam für ESSI ausbilden, um frühzeitig und kontinuierlich einen „common air defence skillset“ zu schaffen und damit einen entscheidenden Schritt hin zu Interoperabilität zu tun. Die zahlreichen positiven Rückmeldungen, die wir von den ESSI-Partnern hierzu bekommen haben, bestätigen uns in diesem Ansatz.

Die Möglichkeit der Abwehr von Drohnen hat sich ebenfalls als überlebenswichtiger Bestandteil der Luftverteidigung erwiesen. Können Sie uns einen Überblick über die Mittel geben, mit denen zukünftig innerhalb neben ESSI einer Drohnenbedrohung zu begegnen ist? Mit NNbS soll in diesem Bereich eine Fähigkeit aufgebaut werden. Wo liegen die besonderen Herausforderungen?

Die große Herausforderung für die bodengebundene Luftverteidigung bleibt absehbar die frühzeitige Detektion und Klassifizierung von Drohnen, um Abhalteentfernungen zu vergrößern und effiziente Bekämpfung zu ermöglichen. Für mich ist klar: Es gibt weder für Detektion noch für die Bekämpfung ein System „onefits all“ – dafür ist das Bedrohungsspektrum viel zu groß. So sind z. B. nur sehr spezialisierte Detektionssysteme in der Lage, Drohnen von Vögeln in der Größe von Amseln zu unterscheiden und gleichzeitig Falschziele zu erkennen sowie Sättigungsangriffen standzuhalten.

Bei der Bekämpfung ist ein Mix zwischen kinetischen und nicht-kinetischen Wirkmitteln aus meiner Sicht der erfolgversprechende Weg. Um z. B. der Bedrohung durch kleinere „Unmanned Aerial Systems“ zu begegnen, haben wir für Einsätze sehr schnell verschiedene Abwehrmittel wie den tragbaren Störer HP47+ oder das System ASUL beschafft, die das Steuersignal der Drohne überlagern bzw. die Drohne zum Absturz bringen können.

Beide Systeme sind nicht das Non-plus-ultra, aber Schritte in die richtige Richtung. Zudem ist der Markt an Detektions- und Wirksystemen sehr dynamisch – hier müssen wir Schritt halten. Im Übrigen hat der Generalinspekteur der Bundeswehr das Thema Drohnenabwehr hoch priorisiert – das gibt zusätzlichen Rückenwind.

Im Projekt „Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz – NNbS“ ist die Befähigung zum Wirken gegen „Unmanned Aerial Systems“ Teil der sogenannten Entwicklungslösung im Gesamtprojekt. Um die dringend benötigte Fähigkeit schneller aufbauen zu können, hat die Bundeswehr entschieden, den Flugabwehrpanzer SKYRANGER 30 vorzeitig zu beschaffen. Mit seiner 30mm Kanone kann der SKYRANGER in schneller Folge eine große Anzahl von Zielen effektiv bekämpfen. Betrieben werden die Systeme durch das Heer.

Soweit uns bekannt, soll bei NNbS zunächst eine Anfangsbefähigung aufgebaut werden. Wie sehen die weiteren Schritte hin zu einer vollständigen Integration in das nationale Luftverteidigungssystem aus?

Das Luftverteidigungssystem NNbS wird aus dem Sondervermögen Bundeswehr finanziert und in zwei Teilprojekten realisiert, um die Fähigkeitslücke beim Schutz z. B. beweglich geführter Operationen des Heeres vor Bedrohungen aus der Luft zu schließen. Das System wird im Wesentlichen aus einer Mittelbereichskomponente und einer hochmobilen Nächstbereichskomponente bestehen.

Der Flugkörper AQUILA, an dessen Konzeption MBDA derzeit im Rahmen von HYDIS2 arbeitet, wird künftig einen maßgeblichen Beitrag zur Verteidigung gegen Hyperschallwaffen leisten. Illustration: MBDA
Der Flugkörper AQUILA, an dessen Konzeption MBDA derzeit im Rahmen von HYDIS2 arbeitet, wird künftig einen maßgeblichen Beitrag zur Verteidigung gegen Hyperschallwaffen leisten.
Illustration: MBDA

Die Mittelbereichskomponente wird zukünftig durch die Luftwaffe, die hochmobile Nächstbereichskomponente durch das Heer betrieben. Wichtig ist, dass die beiden Komponenten führungsmäßig vollständig interoperabel sind. Damit wird die Führung des Feuerkampfes vereinfacht und der Munitionseinsatz optimiert. Das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr hat am 25. Januar 2024 mit der sogenannten „Arbeitsgemeinschaft NNbS“ den entsprechenden Entwicklungsvertrag abgeschlossen.

Dieser Vertrag zielt darauf ab, insbesondere die noch nicht auf dem Markt verfügbare hochmobile Nächstbereichskomponente kurzer Reichweite zu entwickeln. Zudem sollen Lösungen zur ad-hoc-Vernetzung der Einzelkomponenten und einige andere Verbesserungen an bestehenden Systemkomponenten realisiert werden. Die Grundlage für die Mittelbereichskomponente ist unser System IRIS-T SLM.

Kommen wir nach ESSI zu einem völlig anderen Thema: Der Weltraum gewinnt für viele Verteidigungsaufgaben zukünftig eine hohe Bedeutung. Welche Beiträge können der Weltraum und die dort stationierten Assets für die nationale Luftverteidigungsfähigkeit bieten?

In der Tat kommt dem Weltraum seit Jahren eine wachsende Bedeutung für unsere Sicherheit zu. Die sichere Nutzung des Weltraums ist für viele zivile Lebensbereiche unerlässlich. Zugleich hat die militärische Nutzung des Weltraums für moderne Streitkräfte ebenfalls eine entscheidende Bedeutung.

Weltraumsysteme und die von ihnen bereitgestellten Daten, Dienste und Produkte sind existenziell wichtig für die Handlungs- und Reaktionsfähigkeit von Streitkräften, für Früherkennung und Warnung.

Dies gilt gerade mit Blick auf die modernen Waffensysteme der bodengebundenen Luftverteidigung, einschließlich der territorialen Flugkörperabwehr. Diese Waffensysteme nutzen beispielsweise die Positions-, Navigations- und Zeitsignale von Satelliten genauso, wie wir die Daten von Aufklärungssatelliten mit u. a. Infrarotsensoren brauchen. So können wir dann Flugkörper oder ballistische Raketen frühzeitig erkennen und auch auf größere Entfernung mit höherer Wahrscheinlichkeit bekämpfen.

Insofern ist die Einbindung und Nutzung von weltraumgestützten Fähigkeiten bereits heute Bestandteil moderner Luftverteidigungssysteme und dies sowohl auf nationaler, europäischer und vor allem auf NATO-Ebene.

Eine letzte Frage: Mit ARROW beschafft Deutschland ein „strategisches Luftverteidigungssystem“, das an drei Standorten stationiert werden soll. Können Sie uns einen Überblick über die damit erreichbare Verteidigungsfähigkeit geben, wie können mögliche Lücken abgedeckt werden?

Mit dem Waffensystem ARROW beschafft Deutschland ein im realen Einsatz erprobtes System. Damit schaffen wir den Einstieg in die territoriale Flugkörperabwehr und die Möglichkeit, ballistische Raketen außerhalb der Erdatmosphäre abzufangen. Darüber hinaus verfügen wir mit dem System auch erstmals über die Fähigkeit, Daten bereitzustellen, um die Bevölkerung in unserem gesamten Staatsgebiet vor einem Angriff frühzeitig warnen zu können. Zudem können wir verschiedenen Akteuren von Sicherheits- und Rettungsorganisationen notwendige Informationen zur Verfügung stellen.

Der Ausbau der Fähigkeiten zur Flugkörperabwehr ist auch Schwerpunkt der NATO. Deutschland geht also mit eigenem Beispiel voran und schließt mit ARROW sehr schnell eine Fähigkeitslücke.

Im Zusammenspiel der Waffensysteme PATRIOT, IRIS-T SLM, LVS NNbS und ARROW werden wir in Deutschland zukünftig über eine Luftverteidigungsstruktur verfügen, die nahezu das gesamte Bedrohungsspektrum abdeckt.

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