Deutschland ist mit der Zeitenwende und dem Sondervermögen der Bundeswehr aus dem Schatten der USA getreten und übernimmt als europäische Führungsnation in der bodengebundenen Luftverteidigung Verantwortung zur Stärkung der europäischen Säule in der Integrierten Luftverteidigung der NATO. Die European Sky Shield Initiative (ESSI) ist ein Beispiel für die Umsetzung der Zeitenwende.
Nunmehr ist die Ukraine im dritten Kriegsjahr. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlandsnimmt immer verheerendere Ausmaße an. Angriffe auf die Bevölkerung, die kritische Infrastruktur und auf militärische Ziele mit allen verfügbaren Waffen, angefangen von Artillerie über Drohnen bis hin zu Hyperschallflugkörpern, sind an der Tagesordnung. Die ukrainische Luftverteidigung beweist Tag für Tag, wie wichtig einsatzerprobte und mit ausreichend Munition versorgte Einheiten der fliegenden und bodengebundenen Luftverteidigung sind. Es wird ebenfalls deutlich – eine „one-size-fits-all“-Lösung existiert bei der European Sky Shield Initiative nicht.
ESSI ist Zeitenwende
Die Bundeswehr kommt aus einer Welt der integrierten Luftverteidigung der 1990er Jahre mit den Waffensystemen GEPARD, ROLAND, HAWK und PATRIOT. Mit dem Sondervermögen wurden die ersten großen Schritte genommen, um die bodengebundene Luftverteidigung auf die neuen Bedrohungen auszurichten.
Deutschland beschafft für die European Sky Shield Initiative mit dem Waffensystem ARROW zur territorialen Flugkörperabwehr in der oberen Abfangschicht ein marktverfügbares System, welches beginnend im Jahr 2025 aufgestellt wird. Mit PATRIOT (Flugabwehr großer Reichweite und Flugkörperabwehr in der unteren Abfangschicht) besitzt die Luftwaffe seit den 1980er Jahren ein einsatzerprobtes sowie stetig weiterentwickeltes und modernisiertes Waffensystem.
PATRIOT bildete seither das Rückgrat der bodengebundenen Luftverteidigung in Deutschland. Um PATRIOT weiterhin zukunftsfähig aufzustellen, werden in den nächsten Jahren umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen am Waffensystem selbst und auch am deutschen Kommunikationssystem durchgeführt sowie Fahrzeuge und Generatoren ersetzt.
Als Ersatz für an die Ukraine abgegebenes Material ist die Beschaffung von neuen PATRIOT-Systemen in einer Konfiguration angestrebt, die bei den europäischen Partnern und der USA betrieben wird. Damit erreichen wir eine Interoperabilität und Austauschbarkeit von Systemen und Systemteilen, die so bis dato nicht gegeben war.
Für die mittlere Reichweite wird die Luftwaffe sechs Feuereinheiten des ebenfalls äußerst erfolgreich in der Ukraine eingesetzten Flugabwehrsystems IRIS-T SLM erhalten. Zur Integration in den Verbund der NATO-Luftverteidigung werden diese Feuereinheiten angepasst. Hierzu gehören die Einrüstung eines Gerätes zur Freund-Feind-Kennung und von Taktischen Datenlinks sowie die Maßnahmen für die Cyber-Sicherheit.
Im Nah- und Nächstbereich bei der European Sky Shield Initiative benötigen die Brigaden und Divisionen des Heeres, und das nicht nur basierend auf den Erfahrungen aus der Ukraine, Schutz vor Angriffen aus der Luft. Zur Schaffung der Operationsfreiheit und Erhöhung der Durchsetzungsfähigkeit wurde die Entwicklung des Luftverteidigungssystems Nah- und Nächstbereich – LVS NNbS (Mittlere und Kurze Reichweite) – vertraglich vereinbart.
Hier wird eine militärische Fähigkeit geschaffen, die es momentan so nicht gibt, insbesondere wird es im Nächstbereich möglich sein, nicht nur „aus der Bewegung“, sondern „in der Bewegung“ Angriffe abzuwehren. Das bereits genannte System IRIS-T SLM und der SKYRANGER 30 sind vorgezogene Elemente von LVS NNbS.
Der intensive Einsatz von Drohnen sowohl auf dem Gefechtsfeld als auch gegen die Bevölkerung und kritische Infrastruktur zeigt den dringenden Bedarf an Abwehrmöglichkeiten dieser unbemannten „Luftkriegsmittel“ auf. Um schnellstmöglich eine hochmobile Drohnenabwehr-Fähigkeit in einem geschützten Fahrzeug zu beschaffen, wird der SKYRANGER 30 drei Jahre früher als geplant beschafft werden.
Dieser ist explizit für die Abwehr von Klein- und Kleinstdrohnen auf dem Gefechtsfeld vorgesehen. Die Integration eines hochauflösenden Radars, einer 30mm Kanone und Lenkflugkörpern in den Waffenturm auf der Plattform BOXER stellt eine effektive Kombination zur Abwehr der vorgenannten Bedrohung im Nächstbereich dar. Auch im Schutz der kritischen Infrastruktur sind Fortschritte erzielt worden, insbesondere mit dem Vertrag über die Beschaffung des Abwehrsystems unbemannter Luftfahrzeuge (ASUL).
European Sky Shield Initiative (ESSI)
Zentraler Aspekt der ESSI ist die gemeinsame Beschaffung von bodengebundenen Luftverteidigungssystemen, die wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Luftverteidigungsstrategie sind. Durch die Bereitstellung von Waffensystemen auf aktuellem Stand der Technik, gemeinsamer Nutzung, Schulungen und Übungen wird die Entwicklung und der Ausbau der Luftverteidigungskapazitäten europäischer Länder – und somit der Integrierten Luftverteidigung der NATO – gestärkt.
Nach der Zeichnung des Letter of Intents für ESSI im Oktober 2022 durch ursprünglich 15 Partnernationen sind mittlerweile insgesamt 21 Nationen vertreten (Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Lettland, Litauen, Niederlande, Norwegen, Österreich, Rumänien, Schweiz, Schweden, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Türkei, Ungarn).
Bereits im Oktober 2023 wurde durch die Zeichnung des European Sky Shield Initiative Cooperative Procurement Framework Memorandum of Understanding (ESSI CP FMoU) durch elf Partnernationen (Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Lettland, Litauen, Niederlande, Slowenien, Tschechien, Ungarn) die Absicht zur gemeinsamen Beschaffung konkretisiert. Weitere Partnernationen haben signalisiert, zeitnah die Aufnahme in das ESSI CP FMoU zu beantragen. Dieses internationale Regelwerk ist Voraussetzung für eine gemeinsame Beschaffung auf Basis der bereits geschlossenen deutschen Verträge.
Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Interoperabilität und Austauschbarkeit von Waffensystemen verschiedener Nationen. Die einfachste Möglichkeit, dies zu erreichen, ist der Betrieb gleicher Systeme. Daher werden zurzeit in ESSI jeweils die deutsche Konfiguration der Systeme IRIS-T SLM und SKYRANGER 30 C-UAS sowie dessen Waffenturm als mögliche „Einzelkomponente“, als Kooperationsprojekte angeboten. Für alle genannten Waffensysteme existiert ein hohes Interesse bei den an der European Sky Shield Initiative beteiligten und darüber hinaus auch weiteren Nationen.
Der Einsatz der im Rahmen von ESSI beschafften Systeme erfolgt unter nationaler Hoheit der jeweiligen Staaten. ESSI schafft hier keine Führungsstruktur, legt aber über die genannte hohe Interoperabilität die Grundlage für einen gemeinsamen Einsatz der Systeme.
Fazit ESSI
Nach mittlerweile 15 Monaten European Sky Shield Initiative ist festzustellen, dass diese Initiative bereits gute Erfolge an grenzübergreifender Kooperation in der Beschaffung gemeinsamer Waffensysteme verzeichnen kann, aber auch großes Interesse an einer gemeinsamen Nutzung, Ausbildung und Durchführung von Übungen existiert. Und es gibt, neben dem breiten Interesse, auch erste konkrete Erfolge:
Zum einen wurde die gemeinsame Beschaffung von PATRIOT-Lenkflugkörpern aus europäischer Produktion über die NATO Support and Procurement Agency unter Vertrag genommen. Zum anderen wurde innerhalb ESSI die erste Beschaffung einer Feuereinheit IRIS-T SLM durch Slowenien beauftragt. Für den SKYRANGER 30 C-UAS Waffenturm ist Deutschland mit zwei Nationen in Verhandlungen und steht kurz vor der Zeichnung weiterer Kooperationsvereinbarungen.
Weitere Partner für einen möglichen Kauf eines der beiden Systeme und Systemanteile haben sich bereits gemeldet. Somit werden zeitnah, aber auch für die Zukunft, der Beschaffungsumfang und die Anforderungen an eine gemeinsame Nutzung in der European Sky Shield Initiative immer größer.
Das Vorgehen in der durch Deutschland initiierten ESSI hat sich bewährt. Es kann weiterhin davon ausgegangen werden, dass diese Erfolgsgeschichte fortgeschrieben wird.
Deutschland ist in der bodengebundenen Luftverteidigung aus der Reihe vorgetreten, nimmt die Herausforderung an und festigt somit seine Führungsrolle in Europa.
Oberstleutnant Marcel Szalai,
RÜ III 3, Bundesministerium der Verteidigung
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