„Die stärkste Kraft im Land: Zuversicht“, hieß das Motto der heutigen außerordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin. Die vorgezogene Neuwahl und der Zeitdruck sorgten auch bei den debattierfreundlichen Grünen dafür, dass die gesamte Tagesordnung schneller über die Bühne gebracht wurde als gewohnt. Doch am Ende stand ein bei nur zwei Enthaltungen beschlossenes Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2025 – inklusive Bekenntnis zur Ukraine-Hilfe und mehr Investitionen in europäische Rüstungskapazitäten.
Insgesamt 829 Delegierte aus den Kreisverbänden der Partei durften heute das Wahlprogramm für die anstehende Bundestagswahl beschließen. Im Vorfeld dieser außerordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) waren rund 1.900 Änderungsanträge eingegangen und teilweise modifiziert für den Entwurf des Wahlprogramms übernommen worden. Rund zehn Anträge waren auch nach Verhandlungen mit den Antragstellenden strittig und wurden im Plenum zur Abstimmung gestellt. Darunter auch ein größerer Änderungsantrag zu Rüstungsausgaben, Wehrpflicht und nuklearer Teilhabe.
Neben einer Präambel mit grundsätzlichen Absichten der Grünen gliedert sich das heute beschlossene Wahlprogramm in drei Kapitel, darunter auch „Frieden in Freiheit sichern – innen und außen“. Neben Antworten in nationalen Debatten senden die Grünen von diesem Parteitag auch ein Signal ans Ausland. „Europe United ist unsere Antwort auf America First“, eröffnete Pegah Edalatian, politische Geschäftsführerin der Grünen, die BDK.
Allein mit der Fahne in der Hand
Bereits am Morgen, als die rund 2.400 Delegierten, Gäste und Medienschaffende zum CityCube Berlin strömten, standen Gruppen Demonstrierender vor dem Gebäude. Manche demonstrierten für Palästina, andere für ein AfD-Verbot. Doch nur einer von ihnen blieb bis lange nach Veranstaltungsbeginn vor dem Zaun stehen. Mit Plakat und Ukraine-Fahne in der Hand mahnte er die Grünen, „vom lahmen Pferd SPD“ abzusteigen. Ein vorbeigehender Delegierter – mit gelb-blauem Pin am Revers – räumte ein: Man müsse wohl in den sauren Apfel beißen, denn nur mit der CDU sei eine effektive Ukraine-Hilfe machbar.

Das aber sahen nicht alle Grünen so. Auch in den Reden wurde nicht auf mögliche Koalitionen eingegangen. Im Gegenteil: Hier wurde neben inhaltlichen Punkten zum Wahlprogramm gegen den Kanzlerkandidaten der Union, Friedrich Merz, ausgeteilt. Gerade seine jüngsten Aussagen zu möglichen Grenzschließungen stießen auf absolutes Unverständnis bei grünen Rednern. „Nicht mit der europäischen Gesetzgebung zu vereinbaren“, nannte Robert Habeck die Vorstöße seines Kontrahenten.
Doch ganz verbauen will man sich eine mögliche Regierungskoalition mit der CDU auch nicht. Felix Banaszak, Bundesvorsitzender der Partei, überlegte in seiner Eröffnungsrede, „ob es mangelnde Impulskontrolle oder zynisches Kalkül“ von Merz gewesen sei, die „Brandmauer“ zur AfD einzureißen.
Banaszak sagte aber auch: „Es ist kein Zeichen von Schwäche, Fehler einzugestehen und sich zu korrigieren. Es ist ein Zeichen demokratischer Stärke, den Weg nicht weiterzugehen in die Sackgasse, sondern zurückzukommen und den Schulterschluss mit allen Demokratinnen und Demokraten zu suchen.“ Das Bekenntnis zur Demokratie als Grundlage für mögliche Koalitionsgespräche? Die Hand dafür scheint trotz aller Kritik bei dieser Bundesdelegiertenkonferenz ausgestreckt zu sein – die Schnittmenge in der Sicherheits- und Außenpolitik zwischen Union und Grünem Wahlprogramm wird nicht nur beim Thema Ukraine als groß eingeschätzt.

Es gibt allerdings Bedenken. „Andere Parteien versuchen, die soziale Sicherheit, die innere Sicherheit und die äußere Sicherheit gegeneinander auszuspielen“, stellte beispielsweise Außenministerin Annalena Baerbock mit Blick auch auf die SPD fest. „Das ist genau das Gegenteil von aktiver Sicherheitspolitik. Wir haben als Bundesregierung gemeinsam in unserer nationalen Sicherheitsstrategie festgeschrieben, dass innere und äußere Sicherheit und soziale Sicherheit Hand in Hand zusammengehen.“ Dieser Dreiklang dürfe nicht beendet werden, auch nicht aus finanziellen Gründen.
Die aktive Rolle Deutschlands in der europäischen Sicherheitspolitik sei zudem eine historische Verantwortung. „So wie andere, die in unsere Geschichte für uns da waren, als wir sie brauchten“, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock, „stehen wir heute ohne Wenn und Aber auf der Seite der Menschen in der Ukraine und damit auf der Seite des Friedens in Europa.“ Ein Frieden, der bei manchen Grünen – aus ebenso historischen Gründen – auf andere Weise erzielt werden solle, als es die Politik der regierenden grünen Fraktion in den letzten drei Jahren tat.
Kritische Stimmen finden keine Mehrheit
Auch wenn der Parteitag kurz und bei den wenigen Abstimmungen ohne große Abweichungen vonstattenging, gab es nicht zuletzt beim Thema „Äußere Sicherheit“ lautstarken Gegenwind. Das zeigte sich auch in der bei Grünen traditionell wichtigen inhaltlichen Debatte. Ein Änderungsantrag mit der Nummer WP-01-K3-898 betraf gleich mehrere sicherheitsrelevante Punkte.
So wollten die Antragstellenden unter anderem erreichen, dass im Wahlprogramm das 2-Prozent-Ziel der NATO für den Verteidigungshaushalt als Obergrenze begriffen würde – nicht als Untergrenze, wie es in der aktuellen Politik diskutiert wird. Zusätzliche Mittel über Kreditaufnahmen – wie etwa beim Sondervermögen – sollten jedoch ausdrücklich möglich sein.
„Würde Roberts öffentliche Forderungen von 3,5 Prozent in unserer Partei eine Mehrheit finden“, rechnete der Antragsteller aus dem Kreisverband Hannover vor, „dann wären das in der nächsten Legislaturperiode 400 Milliarden zusätzlich für das Militär. Das ist nicht vertretbar und es ist auch nicht notwendig, denn allein die europäischen Staaten ohne die USA haben heute in praktisch allen Bereichen eine militärische Überlegenheit.“
Im selben Antrag wurde auch gefordert, die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu verhindern und sich dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) anzuschließen. Konsequenterweise solle dies auch ein Ende der nuklearen Teilhabe bedeuten. Die Antragstellenden forderten im gleichen Schritt auch auf einen Abzug der russischen in Kaliningrad stationierten Raketenbedrohung zu sorgen. „Wir brauchen dringend eine neue Abrüstung und neue Verbote z. B. für autonome Waffen und Waffen im Cyber- und Weltraum“, hieß es zudem im Antrag.
Außerdem sollte der Satz aufgenommen werden, dass „die noch nach Artikel 12a des Grundgesetzes mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht“ abgelehnt werden solle.

Die Gegenrede zu diesem umfassenden Änderungsantrag übernahm Außenministerin Annalena Baerbock. Sie erklärte den Delegierten, dass eine Annahme des Antrags die Sicherheitspolitik Deutschlands der vergangenen drei Jahre zunichtemachen würde. „Der Frieden in der Ukraine ist unser Frieden in Europa und deswegen gehen Wiederaufbau, humanitäre Hilfe und der Schutz des Friedens für uns Hand in Hand“, sagte die Ministerin.
Weiter sagte Baerbock: „Genau deswegen haben wir die deutsche Außenpolitik neu aufgestellt und an die Stelle der Naivität der Großen Koalition jetzt die Realität gesetzt.“ Der Änderungsantrag, der bei einer grundsätzlichen Zustimmung zu Bundeswehr und zur Ukraine-Hilfe zumindest einen Einstiegspunkt für Abrüstung und Deeskalation setzen wollte, wurde mit sehr großer Mehrheit abgelehnt.
Grüne wollen Verteidigungsindustrie weiter stärken
Anders der bereits vor dem Parteitag von der Antragskommission übernommene Änderungsantrag WP-01-K3-1192. Dieser wollte die ohnehin im Wahlprogramm enthaltene Stärkung der deutschen und europäischen Rüstungsindustrie explizit um den Ausbau europäischer Fertigungskapazitäten ergänzen.
An einem Wochenende, an dem US-Präsident Donald Trump genehmigte, aber noch nicht ausgezahlte Unterstützungsleistungen für die Ukraine stoppte, wurde auch den Delegierten in Berlin einmal mehr bewusst, dass Europa zeitnah mehr Verantwortung vor der eigenen Haustür übernehmen müsse. Auch das sei mit „Europe United“ als Antwort auf „America First“ gemeint, heißt es auf dem grünen Parteitag zum Wahlprogramm.

Gegenüber CPM Defence Network wiederholte der Vorsitzende des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union im Deutschen Bundestag, Anton Hofreiter, seine Forderung nach einem 500 Milliarden Euro schweren europäischen Verteidigungsfonds. 100 Milliarden davon sollten direkt für Rüstungsbeschaffungen der Ukraine verwendet werden. Der Rest solle die europäische Verteidigungsindustrie auch mit Infrastrukturmaßnahmen stärken.
Wahlprogramm schneller beschlossen als geplant
Auch wenn es Kritik und zahlreiche Alternativvorschläge für Formulierungen im Wahlprogramm gab, blieb es in der Sache überwiegend ruhig. Bereits um kurz nach 15 Uhr stellte Robert Habeck fest, dass es – anders als bei andere – zumindest bei den Grünen nicht an der Geschwindigkeit mangele. Eigentlich war das Ende der Bundesdelegiertenkonferenz für 17 Uhr angesetzt.
Doch ohne Reibung auch keine Verzögerung. Auf diesem Parteitag bleiben die Grünen ihrer Haltung treu. Den Demonstranten mit der ukrainischen Fahne draußen vor dem Zaun dürfte das freuen. Er will mit seiner Mahnung auch beim CDU-Parteitag Anfang Februar nach Berlin kommen.
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