Humanitäres Völkerrecht: Das darf Israel

Der Krieg in Gaza nimmt kein Ende. Trotz internationaler Warnungen steht eine weitere Offensive auf die im Süden gelegene Grenzstadt Rafah kurz bevor. Von Israels Gegnern – aber auch Verbündeten – wird immer mehr auf die steigende Zahl ziviler Opfer hingewiesen und dass die israelischen Streitkräfte (Israel Defense Forces, IDF) ihrer aus dem humanitären Völkerrecht resultierender Verpflichtung zum Schutz von Zivilisten nicht ausreichend nachkäme. Doch was darf Israel laut Völkerrecht – und was nicht.

Darf Israel das nach dem humanitären Völkerrecht? Palästinenser fliehen aus dem nördlichen Gazastreifen © UNRWA photo by Ashraf Amra
Palästinenser fliehen auf Anweisung der israelischen Streitkräfte aus dem nördlichen Gazastreifen.
Foto: UNRWA / Ashraf Amra

Zuerst – gewissermaßen als Präambel – gilt es jedoch festzuhalten, dass der Waffenstillstand zwischen dem Staat Israel und der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 mit 1.200 ermordeten und rund 5.400 verletzten Zivilisten in Israel gebrochen wurde – einseitig. Sich verteidigen darf Israel.

Was nun folgte, war eine von Luftangriffen begleitete Bodenoffensive der israelischen Streitkräfte in Gaza, um die von der Regierung erklärten Ziele zu erfüllen, alle der ursprünglich mehr als 230 Geiseln zu befreien und die Hamas nachhaltig zu zerschlagen. In einer ersten Offensive trieben die israelischen Streitkräfte (IDF) einen Keil mitten durch den Gazastreifen, um die im Norden befindliche Stadt Gaza einzukreisen und im anschließenden Häuser- bzw. Tunnelkampf gezielt gegen Terroristen und ihre Verstecke vorzugehen.

Dazu hatte das israelische Militär bereits vor Beginn der Bodenoffensive die Zivilbevölkerung aufgerufen, den Norden des Gazastreifens in Richtung Süden zu verlassen. Im Rahmen der Militäroperation „Eiserne Schwerter“ erfolgte ab der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober 2023 der Beginn der Bodenoffensive, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten palästinensischen Gesundheitsbehörde seit dem 7. Oktober rund 32.500 Menschen starben und rund 75.000 Menschen verletzt wurden (Stand 28.3.24).

Frontverlauf Karte des Israel-Hamas-Krieges 2023, Stand 29.03.2024, wikimedia Ecrusized, influenced by user Rr016
Frontverlauf Karte des Israel-Hamas-Krieges mit Stand vom 29.03.2024.
Karte: wikimedia /Ecrusized (auf Grundlage von Rr016)

International gelten diese Zahlen als plausibel, unabhängig überprüfen lassen sie sich allerdings nicht. Auffällig ist, dass die palästinensische Statistik nicht zwischen Hamas- bzw. anderen Terroristen und Zivilisten unterscheidet, während die israelische Armee ein Verhältnis von grob 1:2 schätzt. Allein bis Anfang Januar will die IDF bereits rund 9.000 Terroristen getötet haben und spricht für denselben Zeitraum von rund 15.000 getöteten Zivilisten.

Forderungen des humanitären Völkerrechts

Nach den Offensiven im Norden des Gazastreifens und in der zentral gelegenen Stadt Chan Yunis steht eine weitere Offensive in die Grenzstadt Rafah kurz bevor. Auch hier ist die internationale Sorge vor zivilen Opfern groß, da den Menschen in Gaza bei der weiterhin geschlossenen Grenze nach Ägypten allmählich die Orte ausgehen, an die sie fliehen könnten. Von Seiten Israels heißt es, dass die Zivilisten aufgefordert würden, bestimmte Gebiete zu meiden, um die zivilen Opferzahlen möglichst gering zu halten.

Ebenfalls mit Stand Anfang Januar hätten die IDF ca. 79.000 Telefonanrufe, 7,2 Millionen abgeworfene Flugblätter und rund 13,7 Millionen Textnachrichten eingesetzt, damit palästinensische Zivilisten mögliche Anrgiffs- sowie Gefahrenzonen verlassen. Eine Warnung allein bedeutet jedoch nicht, dass die Gewarnten sie auch beherzigen wollen oder können. Gerade zu Beginn der Offensive wurde berichtet, dass die Hamas Zivilisten teils mit Waffengewalt an der Flucht hindert.

Eines der von der IDF abgeworfenen Flugblätter, mit dem die Zivilbevölkerung in Gaza zur Evakuierung in den Süden aufgerufen wurde.
Eines der von der IDF abgeworfenen Flugblätter, mit dem die Zivilbevölkerung in Gaza zur Evakuierung in den Süden aufgerufen wurde.
Foto: IDF

Aus früheren Konflikten bekannt ist das sogenannte „Dachklopfen“, bei dem israelische Piloten ein nicht explodierendes Scheingeschoss auf Dächer verbringen, um den zivilen Bewohnern – die nicht selten auch von der Hamas als menschliche Schutzschilder absichtlich auf das Dach eines Gebäudes geschickt wurden – zur Flucht zu drängen.

Erst ein paar Minuten nach dem „Anklopfen“ erfolgt der eigentliche Beschuss des Gebäudes. Laut Angaben aus der palästinensischen Bevölkerung und des israelischen Militärs werde das „Dachklopfen“ im aktuellen Krieg nur noch punktuell eingesetzt, da die Alternativen SMS und Flugblätter verstärkt zum Einsatz kämen.

Infobox:
Das humanitäre Völkerrecht (International Humanitarian Law, kurz IHL) umfasst Regeln aus verschiedenen Vereinbarungen, die im Fall eines Krieges oder eines anderen internationalen bewaffneten Konflikts den größtmöglichen Schutz von Menschen (Soldaten, Kriegsgefangene, Zivilisten), Infrastruktur und Umwelt (auch Kulturgüter) zum Ziel haben. Erste Grundsätze stammen bereits aus dem Jahr 1864. Historisch und inhaltlich bedeutend sind die vier Genfer Abkommen mit ihren drei Zusatzprotokollen sowie die Haager Abkommen.

Die für diesen Konflikt entscheidenden Regelungen ergeben sich aus dem Genfer Abkommen IV, welches am 12. August 1949 getroffen wurde, um den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten zu regeln. Unterzeichnerstaaten wie Israel verpflichten sich darin, am Kampfgeschehen Unbeteiligte vor körperlichen Schäden, Folter, Geiselnahme und einer entwürdigenden Behandlung zu schützen (Art. 3).

Das Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen geht jedoch noch weiter ins Detail und definiert nach dem grundsätzlichen Schutz auch zahlreiche Ausnahmen, in denen sich auch Zivilisten nicht mehr vollumfänglich auf das humanitäre Völkerrecht berufen können. Beispielsweise Spione oder Saboteure (Art. 5) oder andere Zivilisten, die sich an gegen eine Kriegs-/Konfliktpartei gerichtete feindlichen Aktionen beteiligen, unterliegen nicht mehr dem Schutz.

Verteilung von humanitären Hilfsgütern an Vertriebene, die in einer UNRWA-Schule in Deir el Balah Schutz suchen © UNRWA Foto von Ashraf Amra
Verteilung von humanitären Hilfsgütern an Vertriebene, die in einer UNRWA-Schule in Deir el Balah Schutz suchen.
Foto: UNRWA / Ashraf Amra

Bei der Frage, wohin im relativ kleinen Gazastreifen die Menschen nach israelischen Aufrufen überhaupt fliehen sollen, spielen die in Art. 15 festgelegten „Neutralen Zonen im Kampfgebiet“ eine wichtige Rolle. Ebenso die in Art. 17 geforderten humanitären Korridore, um aus eingeschlossenen Kampfgebieten zu entkommen. Forderungen, denen Israel – wie oben geschildert – so gut es geht, nachkommt.

Auch der ungehinderte Transport von Hilfslieferungen wie Nahrung, Kleidung und Medikamenten ist im Genfer Abkommen IV geregelt. Dort heißt es in Art. 23, dass solche Güter durchzulassen seien. Genannt ist aber auch die Einschränkung, dass diese Pflicht entfällt, wenn berechtigte Zweifel bestehen, dass die Güter überhaupt bei Zivilisten ankommen und stattdessen den Terroristen bzw. Gegnern als Versorgungsgrundlage dienen könnten. Ein Vorwurf, den die israelische Regierung gegenüber der Hamas und der UNRWA erhebt.

Darf Israel Krankenhäuser angreifen?

Für besonders hitzige Debatten sorgen zudem Angriffe auf Krankenhäuser, von denen es besonders das größte Krankenhaus in Gaza, das Al-Shifa, zu internationaler Bekanntheit brachte. Art. 18 des Genfer Abkommens besagt klar: Krankenhäuser, die „zur Pflege von Verwundeten, Kranken, Schwachen und Wöchnerinnen eingerichtet sind, dürfen unter keinen Umständen das Ziel von Angriffen bilden; sie sollen jederzeit von den am Konflikt beteiligten Parteien geschont und geschützt werden“.

Da nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation von vormals 36 nur noch 13 Krankenhäuser in Gaza (teilweise) einsatzfähig sind, hat der im Genfer Abkommen geforderte Schutz offenkundig versagt. Wer aber trägt die Schuld daran? Von der fälschlicherweise auf dem Parkplatz des Al-Ahli-Krankenhauses abgestürzten Raketen des Islamischen Dschihads einmal abgesehen, werden tatsächlich Krankenhäuser auch von den israelischen Streitkräften angegriffen. Aber handelt es sich dabei tatsächlich um Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht?

IDF-Video zeigt Gebäude des Al-Shifa-Krankenhauses. Wegen der Hamas-Nutzung darf Israel dort operieren.

Womöglich nicht, denn Art. 19 schränkt den besonderen Schutzstatus von Krankenhäusern ein. Dort heißt es, der Schutzstatus würde erlöschen, „wenn sie außerhalb ihrer humanitären Aufgaben zur Begehung von Handlungen verwendet werden, die den Feind schädigen“. Die Aufhebung bedürfe allerdings der Ankündigung und einer gewissen Vorlaufzeit, damit Zivilisten vor einem Angriff evakuiert werden können. Das Beispiel Al-Shifa zeigt, dass sich die israelischen Streitkräfte daran gehalten haben.

Nach Informationen der israelischen Geheimdienste hatte die Hamas besagtes Krankenhaus sowie darunter liegende Tunnel als Kommando- und Kontrollzentrum genutzt. Bei der kürzlich durchgeführten erneuten Stürmung des Krankenhaus wurden nach IDF-Angaben 200 Terroristen getötet und 500 gefangen genommen sowie zahlreiche Waffen und Geheimdienstdokumente sichergestellt. Zivilisten seien bei den erneuten Gefechten Ende März nicht zu Schaden gekommen, Patienten und dem medizinischen Personal seien Fluchtkorridore aufgezeigt worden.

Humanitäres Völkerrecht: Das zivile Opfer allein ist nicht entscheidend

Aber kommt Israel durch das Warnen der Zivilbevölkerung seiner Verpflichtung aus dem humanitären Völkerrecht ausreichend nach? Immerhin hätten Zivilisten die Chance, vor israelischen Angriffen zu fliehen. Zudem ist die IDF tatsächlich eine der ganz wenigen Armeen, die überhaupt in einem derart großen Ausmaß über das eigene Vorgehen informiert, gerade um die palästinensische Zivilbevölkerung zu schützen.

Völkerrechtler wie Prof. Dr. Andreas Müller von der Universität Basel verweisen auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: „Eine kriegsführende Partei muss, wenn sie einen Angriff plant und vorbereitet, auf der einen Seite prüfen: Welchen konkreten militärischen Erfolg kann ich erwarten […] und muss sich gleichzeitig die Frage stellen: Wenn ich die Operation so durchführe, welches Leiden, welche Tötungszahlen in der Zivilbevölkerung werden dadurch bewirkt. Dann muss man schauen, ob das in einem vertretbaren Verhältnis steht.“

Ein Schiff mit humanitärer Hilfe 130 Paletten mit humanitärer Ausrüstung und 115 Tonnen Lebensmittel und Wasser der Organisation World Central Kitchen (WCK) trifft im Seeraum von Gaza ein und wird von der IDF kontrolliert und für den Weitertransport auf 12 LKWs umgeladen. In dieser Woche gab es leider einen Zwischenfall, bei dem ein Tranport gerade dieser Organisation versehentlich von Israel beschossen wurde.
Ein Schiff mit humanitärer Hilfe 130 Paletten mit humanitärer Ausrüstung und 115 Tonnen Lebensmittel und Wasser der Organisation World Central Kitchen (WCK) trifft im Seeraum von Gaza ein und wird von der IDF kontrolliert und für den Weitertransport auf 12 LKWs umgeladen. In dieser Woche gab es einen Zwischenfall, bei dem ein Transport gerade dieser Organisation versehentlich von Israel beschossen wurde.
Foto: IDF

Das humanitäre Völkerrecht erkennt also die Realität an, dass Kollateralschäden wahrscheinlicher Bestandteil eines kriegerischen Konflikts sind. Wohl aber verlangt es die Bemühung, diese zu minimieren.

In diesem Zusammenhang weist Prof. Müller im YouTube-Format „Ask our Expert“ der Universität Basel auch auf die zeitliche Komponente des Abwägens hin: „Wenn ich den Angriff zwei Stunden verschiebe, wenn ich vorher warne, […] kann ich dann meinen militärischen Erfolg […] noch weitgehend erreichen, aber die Opferzahlen halbieren oder noch weiter absenken?“

Überlegungen, die im Sinne des humanitären Völkerrechts bei der Bewertung der Verhältnismäßigkeit einbezogen werden müssen – jenseits der nicht beantwortbaren Frage, wie viele unschuldige Leben ein getöteter Terrorist wert ist. Ob ein Angriff letztendlich verhältnismäßig ist, kann in der Regel erst im Nachhinein vor Gericht geklärt werden, wenn alle zur Entscheidung führenden Umstände berücksichtigt werden könnten, so Prof. Müller.

Messen mit zweierlei Maß

Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit werden bei Israels Kriegsgegner – der Hamas – nicht angestellt. Warum auch? Bei einer Terrororganisation geht man schließlich davon aus, dass sie sich nicht an die oben geschilderten Artikel des Genfer Abkommens zum Schutz von Zivilisten hält. Allein der brutale Überfall auf israelische Zivilisten 7. Oktober 2023 und die damit einhergehende Geiselnahme unschuldiger Menschen – Frauen, Kinder und auch sehr alte Menschen – widersprechen dem Mindestmaß an Schutz des zivilen Lebens.

Soldaten der IDF sind noch immer im Gazastreifen in Einsatz. Ihr Ziel: Zerschlagung der Hamas und die Befreiung aller Geiseln bei gleichzeitig möglichst geringen Auswirkungen auf die palästinensische Zivilbevölkerung.
Soldaten der IDF sind noch immer im Gazastreifen in Einsatz. Ihr Ziel: Zerschlagung der Hamas und die Befreiung aller Geiseln bei gleichzeitig möglichst geringen Auswirkungen auf die palästinensische Zivilbevölkerung.
Foto: IDF

Zwar ist angesichts der enormen Zahlen getöteter Menschen im Gazakrieg ein kritisches Nachfragen auch beim Vorgehen Israels angebracht. Eine unabhängige Aufarbeitung durch Menschenrechts- und Hilfsorganisationen mit Blick auf die insgesamt 159 Artikel des Vierten Genfer Abkommens ist zudem erstrebenswert.

Doch unter Berücksichtigung der vom humanitären Völkerrecht verlangten Verhältnismäßigkeit bei der Abwägung zwischen dem Erreichen militärischer Ziele und dem Schutz der Zivilbevölkerung könnten jene Stimmen, die heute laut von „Genozid“ reden, mit einem für sie überraschenden Ergebnis konfrontiert werden.

So groß das Leid der Zivilisten in Gaza auch ist, so berechtigt ist das grundsätzliche Vorgehen und die Feststellung: Das darf Israel. Ohne den 7. Oktober 2023 würden tausende Menschen heute noch leben, auf beiden Seiten. Es bleibt nur zu hoffen, dass die verbliebenen israelischen Geiseln bald freikommen und das Sterben in Gaza somit ein Ende findet.

Navid Linnemann

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