Visiting Kiew – Leben in einer Stadt im Krieg

Wer Kiew heutzutage besuchen will, der hat die Wahl zwischen Zug und Bus. Kein Flugzeug landet mehr in der Ukraine. Dementsprechend muss auch der Geschäftsreisende ins befreundete Ausland fliegen und sich von dort weiter seinen Weg suchen. Per Zug mit Grenzkontrolle und Umsteigen auf die ukrainische Regionalbahn im polnischen Grenzort Przemyśl. Oder per Überlandbus direkt von einem der größeren Flughäfen Europas aus. Für welchen Weg auch immer man sich entscheidet, 20 Stunden wird die Reise im Durchschnitt dauern. Ein Nachteil für die Verbindung der Ukraine zur Welt, für die Geschäftsleute, für die Angehörigen der Ministerien und der Streitkräfte. Man kann nicht einfach mal in Europa zu einem Kongress oder einer Besprechung kommen, um die eigenen Anliegen zu vertreten.

Die Mauer um das St. Michael-Kloster in Kiew dient dem Gedenken an die gefallenen ukrainischen Soldaten.
Die Mauer um das St. Michael-Kloster in Kiew dient dem Gedenken an die gefallenen ukrainischen Soldaten.
Foto: CPM Defence Network/Dorothee Frank

Die Ukraine konnte sich nach dem russischen Angriff durch ihre schnelle Integration neuester Technologien und der Umsetzung pragmatischer Lösungen deutliche Vorteile verschaffen. Eine Methode, deren Erfolg jeden Tag aufs Neue bewiesen wird. Dinge müssen funktionieren, sie müssen Verbesserungen bringen, daran wird alles gemessen. Dieser Pragmatismus wird bereits an der polnisch-ukrainischen Grenze sichtbar.

Effizienz an der Grenze

Die polnischen Grenzschützer gehen mit ihren belgischen Schäferhunden durch den Bus, der Hund wachsam konzentriert, die Aufmerksamkeit geteilt zwischen dem Abschnüffeln der Reihen und dem Beobachten der Insassen. Ein Auge immer auch auf den Hundeführer gerichtet, bereit auf den leisesten Befehl zu reagieren.

Einige Meter weiter an der ukrainischen Grenze sieht zumindest der Grenzschützer deutlich martialischer aus. Maschinengewehr, schusssichere Weste. Dass die Kombination im Druck Wüstentarn gefärbt ist, unterstreicht sogar noch den mehr militärischen als polizeilichen Eindruck.

Aufgelockert wird die Atmosphäre allerdings durch die wuschelige und überaus fröhliche Promenadenmischung, welche an der Leine des Soldaten die Kontrolle des Busses übernimmt. Die ukrainische Grenzkontrolle ist dabei nicht nur gründlicher, jedes einzelne Gepäckstück wird überprüft, sondern dank des Enthusiasmus und dem durchgehenden Schwanzwedeln des fröhlichen Hundes sogar deutlich entspannter.

Im Grenzhaus der Ukraine sieht man weitere Hunde jeder Größe und Mischung. Es sieht aus, als wären alle herrenlosen Hunde erst ausgebildet und dann in den Staatsdienst übernommen worden. Wenn man den netten Umgang der Soldaten mit ihren tierischen Partnern betrachtet, ist dies für die Hunde sicherlich eine Verbesserung.

Kiew – Getroffen und wieder aufgebaut

Die Straßen, auf denen der Flixbus durch die ukrainische Nacht fährt, sind deutlich besser als viele deutsche Autobahnen. Dasselbe Bild präsentiert sich in Kiew, eine saubere, ordentliche und vor allem intakte Stadt. Wer Schlaglöcher und Kriegsschäden erwartet, muss an einem anderen Ort suchen. Obwohl Kiew erst vor wenigen Tagen von einem der größten Angriffe dieses Krieges getroffen wurde, bei dem unter anderem drei Kinder durch den russischen Beschuss starben, sind im Stadtbild fast keine Schäden zu sehen. Nur einige Fensterscheiben sind mit Brettern statt mit Glas verkleidet – bei ansonsten intakten und frisch gestrichenen Fassaden.

Das Haus des Lehrers in Kiew, in dem 1919 die Ukraine ihre Unabhängigkeit ausrief, musste nach einem russischen Angriff umfassend renoviert werden. Die Fenster sind weiterhin mit Holz verschlossen.
Das Haus des Lehrers in Kiew, in dem 1919 die Ukraine ihre Unabhängigkeit ausrief, musste nach einem russischen Angriff umfassend renoviert werden. Die Fenster sind weiterhin mit Holz verschlossen.
Foto: CPM Defence Network/Dorothee Frank

Gerade diese schnelle Reaktion, die Beseitigung der Schäden, ist ein großes Signal. Richtung Russland sagt es: Ihr könnt uns nicht besiegen, uns nicht dauerhaft schaden, wir werden heilen. Und der eigenen Bevölkerung versichert es den Willen, die Bereitschaft und die Fähigkeiten der Regierung zur Hilfe. Es nimmt den russischen Angriffen einen Teil des Schreckens, erhält das Bild der Normalität, des Lebens, das in ganz Kiew herrscht.

Die Stadt ist sauber, sauberer als die meisten europäischen Städte. Selbst am Bahnhof, wo neben den Zügen die vielen Fernbusse enden, gibt es keinen Müll auf der Straße. Keine achtlos auf den Boden geworfene Zigarettenkippe, kein in einen Busch geworfener Pappbecher stört das Bild. In Europa werden die Plastikdeckel fest mit den Flaschen verbunden, damit sie nicht als Müll in der Gegend enden. In der Ukraine sind die Deckel nicht befestigt, das ist aber auch nicht notwendig.

Der Weg in den Untergrund

Die Straßen und Bürgersteige von Kiew sind nicht nur deutlich sauberer, sondern auch in einem viel besseren Zustand als in Deutschland. Schlaglöcher sucht man vergeblich. Durch den großen Anteil an Elektroautos und die vielen schalldämpfenden Grünflächen fehlt zudem der zumindest in deutschen Großstädten normale Smog und Straßenlärm.

Die Menschen sitzen bei diesem warmen Frühlingswetter in den Cafés oder einem der vielen öffentlichen Gärten, die Kiew ein ganz besonderes Aussehen verleihen.

Über der Erde prägen die alten Gebäude, die orthodoxen Kirchen, die Geschäftsviertel und die unzähligen Parks das Bild der Stadt. Unter der Erde befinden sich die Shoppingmalls und Supermärkte. Nicht wegen des Krieges oder den Luftangriffen, sondern weil oben einfach kein Platz ist. Niemand hier würde eine Grünfläche für ein neues Gebäude opfern, zu wichtig sind diese Ruhezonen den Bürgern. Stattdessen wird nach unten gebaut.

Eine der größten Untergrundshoppingzeilen ist die im Jahr 2001 eröffnete Metrograd Shopping Mall, die über zwei Stockwerke und rund 20.000 Quadratmeter Fläche verfügt.
Eine der größten Untergrundshoppingzeilen ist die im Jahr 2001 eröffnete Metrograd Shopping Mall, die über zwei Stockwerke und rund 20.000 Quadratmeter Fläche verfügt.
Foto: CPM Defence Network/Dorothee Frank

In diesen Malls gibt es keine sichtbaren Leerstände. Anders als in vielen deutschen Innenstädten stirbt das Leben gerade in dieser vom Krieg bedrohten Großstadt nicht aus. Die Geschäfte sind gefüllt mit Waren aus aller Welt. Eine Milka-Schokolade kann man hier genauso kaufen wie eine Rolex-Uhr oder die neueste Apple-Watch. Möglich machen dies die tausende Lkws, die sich täglich auf den ukrainischen Straßen bewegen. Trotz in einigen Teilen durchaus realer Kriegsbedrohung. Trotz stundenlanger Grenzkontrollen. Trotz weiterhin schlechter Bezahlung. In der Ukraine wird vor allem für den Krieg produziert, die meisten zivilen Gebrauchsgüter stammen aus dem Ausland.

Fortschritte in der Ukraine

Modern ist Kiew. Das Internet ist durchgehend gut, WLAN fast überall kostenlos vorhanden. In den Restaurants ist es üblich, den QR-Code am eigenen Tisch zu scannen, der einen zur Speisekarte in verschiedenen Sprachen führt. Über das Handy das Essen bestellt und im Anschluss bezahlt.

Nicht nur Kiew, die gesamte Ukraine ist stolz auf ihre Modernität, auf das Leben und Umarmen der neuen Technologien. Auch im Bereich eGovernment. Seit neuestem sind sogar Online-Hochzeiten möglich, wieder ein Beispiel für eine pragmatische Lösung eines Lebens im Krieg und ohne Flugzeug.

Um die Sicherheit des eGovernments macht man sich hier wenig Sorgen. Es werden die Chancen gesehen, die Verbesserungen – und ansonsten auf die Regierung vertraut, dass sie es schon irgendwie richtig und sicher zur Verfügung stellen wird. Dieses Vertrauen ist gerechtfertigt, wie der Alltag beweist. Schließlich dürfte kaum ein anderes Land der Welt so stark im Fokus der russischen Hacker und staatlichen Cyberterroristen stehen wie die Ukraine. Es wäre ein großer Sieg für Russland, wenn Wladimir Putin vermelden könnte, dass er die ukrainische Regierung, die eGovernment-Möglichkeiten und das Bezahlsystem dauerhaft vom Netz genommen hätte. Aber er kann es nicht.

Sophienkathedrale als Spiegelbild der Geschichte

Die bewegte Geschichte der Stadt wird an einem besonderen Gebäude sichtbar. In Kiew befindet sich die Sophienkathedrale, die im 11. Jahrhundert durch Jaroslaw den Weisen erbaut und zu einem der geistlichen Zentren Kiews wurde. Diese mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Kathedrale wurde während des verordneten Atheismus der UdSSR in ein Museum umgewandelt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wollte die Regierung der Ukraine die Kathedrale eigentlich an die orthodoxe Kirche zurückgeben, nur an welche?

Es erhebten mehrere orthodoxe Kirchen und sogar die ukrainisch-katholische Kirche durchaus berechtigten Anspruch auf den Gebäudekomplex. Aufgrund dieser Streitigkeiten und der ungenauen rechtlichen Lage, da die vor der Unterdrückung durch die UdSSR noch relativ geeinten orthodoxen Kirchen sich nach dem Ende des Kalten Krieges ebenfalls zersplitterten, blieb der Gebäudekomplex als Museum im Besitz des Staates.

Der Innenraum der Sophienkathedrale. Obwohl diese aktuell ein Museum ist, sicherte die Regierung von Kiew die Heiligkeit des eigentlichen Altarraums, indem die Tür in der Ikonostase weiterhin für normale Menschen geschlossen bleibt.
Der Innenraum der Sophienkathedrale. Obwohl diese aktuell ein Museum ist, sicherte die Regierung von Kiew die Heiligkeit des eigentlichen Altarraums, indem die Tür in der Ikonostase weiterhin für normale Menschen geschlossen bleibt.
Foto: CPM Defence Network/Dorothee Frank

Nur ein religiöses Ereignis fand in diesem Jahrtausend in der Kathedrale statt: Eine Synode im Dezember 2018, bei der die Gründung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats, so der offizielle Name dieses neuen Teils der russisch-orthodoxen Kirche, beschlossen wurde.

Im Mai 2022 hat diese Kirche schließlich ihre „völlige Selbstständigkeit und Unabhängigkeit“ von Moskau erklärt, den Angriffskrieg Russlands verurteilt und sich unbemannt in „Ukrainisch-Orthodoxe Kirche“. Deren Hauptsitz ist allerdings das ebenfalls in Kiew stehende und zum Weltkulturerbe gehörende Höhlenkloster.

Erzengel Michael als Schutzpatron Kiews

Kaum weniger bewegt ist die Geschichte des St. Michael-Klosters, das aktuell das eigentliche geistliche Zentrum Kiews ist. Der Erzengel Michael ist nicht nur der Schutzpatron Kiews, mit seinem Schwert und der Rüstung repräsentiert er wie kaum eine andere religiöse Figur den Freiheitskampf der Ukraine. So befindet sich auch an der Mauer der St. Michael-Kathedrale eine der wichtigsten Gedenkstätten für die gefallenen Soldaten der Ukraine.

Der Eingang zum St. Michael-Kloster in Kiew. An der Außenmauer ist eine der wichtigsten Gedenkstätten für die gefallenen Soldaten.
Der Eingang zum St. Michael-Kloster in Kiew. An der Außenmauer ist eine der wichtigsten Gedenkstätten für die gefallenen Soldaten.
Foto: CPM Defence Network/Dorothee Frank

Doch Kiew bleibt nicht in der Vergangenheit verhaftet, selbst der Blick der Menschen in der wunderschönen Altstadt ist in die Zukunft gerichtet. Um diese neuen Technologien nutzen und beherrschen zu können, hat Kiew nur wenige Autominuten von der Innenstadt entfernt ein ukrainisches Silicon Valley aus dem Boden gestampft. Mit eigenem Rechenzentrum, gesicherter Stromversorgung, Wohngebäuden, Sportstätten und natürlich auch unter dem Abwehrschirm der Luftverteidigung.

UNIT.City heißt der Ort, an dem Wissenschaftler, Ingenieure, Start-up Innovatoren und Unternehmen in einer Umgebung zusammentreffen, die den Forschergeist fördert. Der deutsche Fahrzeugbauer BMW eröffnete hier jüngst ein Büro, um direkt an der Quelle die Entwicklungen mitzunehmen und sich gleichzeitig der jungen ukrainischen Elite als modernes Unternehmen zu präsentieren. Und UNIT.City wächst weiter. Neue Gebäudekomplexe entstehen, sogar eine Schule ist geplant.

Während des Verteidigungskampfes der Ukraine wird hier natürlich hauptsächlich mit dem Militär im Fokus entwickelt, nach dem Krieg könnte es allerdings wirklich das Silicon Valley Europas sein, der Treiber für Innovationen und technologischen Fortschritt.

Der Stv. Minister für Wirtschaft der Tschechischen Republik, Jan Kavalirek, informierte sich bei seinem Besuch in UNIT.City über die Ausrichtung und den Aufbau des neuen ukrainischen Silicon Valleys.
Der Stv. Minister für Wirtschaft der Tschechischen Republik, Jan Kavalirek, informierte sich bei seinem Besuch in UNIT.City über die Ausrichtung und den Aufbau des neuen ukrainischen Silicon Valleys.
Foto: CPM Defence Network/Dorothee Frank

Und so präsentiert sich Kiew dem Besucher, der die 20-stündige Anreise nicht scheut, als hochmoderne Metropole mit einer wunderschönen Altstadt. Als eine saubere Welt, in der Tradition sich mit vielen grünen Flächen verbindet, als Lebensmittelpunkt einer der technologisch fortschrittlichsten Gesellschaften in Europa. Es ist eine Stadt, in der man sich zudem sicher fühlen kann. Zwielichtige Gestalten, die in Gruppen an Bahnhöfen oder anderen Hot Spots lungern, gibt es hier nicht. Wer in Kiew nichts zu tun hatte, der hat die Stadt schon längst verlassen.

Gleichzeitig ist der Krieg dennoch präsent, wenn auch auf eine unaufgeregte Art. Das gesamte Regierungsviertel ist gesperrt. Zu groß ist die Angst vor Anschlägen, als zu weitreichend wird der Arm Russlands eingeschätzt. Die Straßensperren sind militärisch organisiert, mit Panzerkreuzen, Stacheldraht, teilweise kleinen Bunkern mit Schießscharten. Das Fotografieren dieser Checkpoints ist verboten, bewacht werden sie von Soldaten mit Gesichtsmasken, sodass nur die Augen frei sind.

Einer dieser Soldaten hält eine Leine in der Hand, an dessen Ende ein Hund schlummert, der wie eine Mischung aus Dackel und Chihuahua aussieht. Doch als ein Wagen vorfährt und der Soldat ihn in den Wagen hebt, macht auch dieses Hündchen seinen Job. Professionell ausgebildet, pragmatisch ausgewählt. Der Vorteil der Ukraine.

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