Deutschlands Überlegungen zu einer multinationalen Luftverteidigungskooperation

Auf Anregung Deutschlands wurde im August 2022 die European Sky Shield Initiative ESSI angekündigt. Für eine derartige multinationale Kooperation in der Luftverteidigung ist so manches nötig. Im Zentrum steht sicherlich die Interoperabilität der Systeme. Die Luftverteidigungskooperation ist ein spannendes und wichtiges Projekt, das den teilnehmenden Staaten sicherlich Möglichkeiten und Grenzen zugleich aufzeigen wird.
Luftverteidigungskooperation: Die Flugabwehrraketengruppe schießt scharf mit dem Flugabwehrraketensystem Patriot beim taktischen Schießen 2019 auf der NATO Missile Firing Installation (NAMFI) in Chania auf der griechischen Insel Kreta
Die Flugabwehrraketengruppe schießt scharf mit dem Flugabwehrraketensystem Patriot beim taktischen Schießen 2019 auf der NATO Missile Firing Installation (NAMFI) in Chania auf der griechischen Insel Kreta
Foto: Bundeswehr/Francis Hildemann

In der Regierungserklärung vom 22. Februar 2022 zur Zeitenwende postulierte Bundeskanzler Olaf Scholz einen „erheblichen Nachholbedarf […] in Europa bei der Verteidigung gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum.“ In der Konsequenz wird Deutschland in den kommenden Jahren in die Luftverteidigung investieren. Diese Luftverteidigung wird von Beginn an so gestaltet, dass sich europäische Partner beteiligen können. Als ganzheitliches System ist es kostengünstiger und effizienter. Gleichzeitig ist es ein Beispiel für die Stärkung der europäischen Säule in der NATO (Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz vom 22. Februar 2022).

Luftverteidigung ist eine dimensionsübergreifende Disziplin, um feindliche Luftkriegsmittel zu bekämpfen. Differenziert wird zwischen Sensoren und Effektoren, die eingebettet in eine Command and Control (C2)-Struktur geführt werden. Hierbei sind die Plattformen der Sensoren und Effektoren primär in den Dimensionen Land, See sowie Luft- und Weltraum zu finden. Der Cyber- und Informationsraum bildet die Basis für das C2-Netzwerk und ist folglich die essentielle Verknüpfung. Eine bestmögliche Optimierung der Luftverteidigung macht es erforderlich, die drei Variablen Sensor, Effektor und C2-Struktur zu verändern. Diese Notwendigkeit wird am Beispiel neuer Bedrohungen wie Hyperschallflugkörper deutlich. Die Reaktionszeit zwischen der Bedrohungserfassung mittels Radar oder Satellit, der Informationsverarbeitung und der Anweisung zur Bekämpfung kann wenige Minuten betragen. In Konsequenz müssen künftige Luftverteidigungssysteme diese Reaktionszeiten für eine effektive Bekämpfung gewährleisten.

Die Luftverteidigung unterscheidet räumlich zwischen mehreren Ebenen: der Nah- und Nächstbereich (bis sieben Kilometer Höhe und 15 Kilometer Entfernung), die mittlere Abfangschicht (bis 35 Kilometer Höhe und 100 Kilometer Entfernung) und die obere Abfangschicht (über 35 Kilometer Höhe und mehr als 100 Kilometer Entfernung).

Für einen effektiven Schutz sind alle Verteidigungsebenen dimensionsübergreifend zu betrachten und die Luftverteidigung permanent sicherzustellen. Die Qualität und Quantität sind Deutschlands Herausforderungen. Qualität bedeutet in diesem Kontext, dass alle Ebenen hinsichtlich der Reichweite abgedeckt werden und innerhalb der Ebene, die erforderlichen Fähigkeiten existieren, um gegen die jeweiligen Bedrohungen zu agieren. Hier ist beispielsweise die weitreichende Luftverteidigung gegen Hyperschallflugkörper als qualitatives Defizit zu nennen. Die Quantität beschreibt die ausreichende Anzahl an Systemen. Deutschland verfügt ähnlich wie europäische Partner über eine nicht ausreichende Anzahl an Systemen, um das Staatsgebiet anteilig zu schützen. Eine Lösung bietet die integrierte Luftverteidigung in einem europäischen Kontext

Ein Startgerät des Flugabwehrraketensystems Patriot vom Taktischen Aus- und Weiterbildungszentrum Flugabwehrraketen der Luftwaffe USA steht bei Sonnenuntergang in der Wüste in Fort Bliss/El Paso
Foto: Bundeswehr/Francis Hildemann

Integrierte Luftverteidigungskooperation im europäischen Kontext

Bereits 2014 wurde das erste „Framework Nation Concept“ verabschiedet. Absicht war die freiwillige Kooperation europäischer Staaten, nicht nur EU- und NATO-Mitglieder, im Sinne der Luftverteidigung. In der Umsetzung bedeutet dies ein multinationales System bestehend aus Sensoren, Effektoren sowie C2-Struktur, welches alle Ebenen der Luftverteidigung abdeckt. Zentrale Herausforderungen in diesem integrierten System ist das Sicherstellen der Interoperabilität zwischen allen Subsystemen in folgenden drei Aspekten: koordinierte Fähigkeitsentwicklung, Harmonisierung der Schnittstellen und Steigerung der koordinierten Operation. Die European Sky Shield Initiative (ESSI) aus 2022 greift den Aspekt der integrierten Luftverteidigung im europäischen Kontext auf.

European Sky Shield Initiative

Auf Anregung Deutschlands wurde im August 2022 die ESSI angekündigt. Ziel der Initiative ist die Stärkung des europäischen Pfeilers in der gemeinsamen Luftverteidigung der NATO, in dem umfassende Luftverteidigungsfähigkeiten beschafft und integriert werden. Aktuell partizipieren 17 Nationen an der ESSI, weitere vier Nationen (Österreich, Schweiz, Portugal und Türkei) haben ihr Interesse bekundet.

Die teilnehmenden Nationen wollen Luftverteidigungssysteme und Flugkörper gemeinsam beschaffen. Anforderung an die Systeme ist die Interoperabilität mit dem NATO Integrated Air and Missile Defense System (NATINAMDS). Beabsichtigt sind beispielsweise das israelisch-amerikanische exo-atmosphärische Raketenabwehrsystem ARROW-3, das Mittelstreckensystem PATRIOT der USA und das deutsche Kurzstrecken-Luftverteidigungssystem IRIS-T SLM zu kaufen. Die Bewertung des Potenzials von ESSI ist zweitgeteilt zu sehen: einerseits in Form einer reinen Beschaffungsplattform und andererseits als umfassendes Luftverteidigungskonzept, welches zusätzlich die ganzheitliche Integration und die operative Nutzung beinhaltet. Als reine Beschaffungsplattform bietet ESSI den Mehrwert, im Rahmen von Anschaffung und Betrieb Kosten zu reduzieren. Dies beinhaltet beispielsweise auch die gemeinsame Logistik und Ausbildung oder gemeinschaftlich genutzte Infrastruktur.

Im direkten Vergleich zur reinen Beschaffungsplattform hat ESSI als ein umfassendes Konzept zur europäischen Luftverteidigung weitere Vorteile. Der Systemverbund und die koordinierte Nutzung ermöglichen den bestmöglichen operativen Wirkungsgrad. Ein Mehr an Informationen, die zudem schneller verfügbar sind, verbessern die situative Aufmerksamkeit und erlauben bessere Entscheidungen. So wird eine koordinierte Luftverteidigung über alle Ebenen realisiert, die im nationalen Rahmen schwer darstellbar ist. Ergo ist die koordinierte Operation des Luftverteidigungssystems das eigentliche Potenzial der ESSI. Deutlich wird dies am Beispiel der Luftverteidigung als Produkt aus Sensor, Effektor und C2-Struktur. Das umfassende Konzept steigert die Orchestrierung der Sensoren und Effektoren über die C2-Struktur, d.h. als umfassendes Konzept wird insbesondere die Variable C2-Struktur optimiert.

Als reine Beschaffungsplattform wird ESSI folglich nicht das Maximum an Effizienz erreichen, gleichwohl diese Form als ausbaufähige Einstiegsvariante gesehen werden kann.

Demgegenüber stehen Herausforderungen auf politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ebene. Auf der politischen Ebene ist es die derzeit fehlende Beteiligung wichtiger europäischer Partner u.a. Frankreichs und Italiens. Der Erwerb von nicht-europäischen Produkten ist wirtschaftlich herausfordernd auf Grund drohender volkswirtschaftlicher Verluste. Zudem besteht die Gefahr, Kompetenzen in der Entwicklung und Fertigung zu verlieren. Militärisch ist die Kurzfristigkeit der Entscheidungen eine Herausforderung, da keine umfassende und mit Bündnispartnern abgestimmte Bedrohungsanalyse der Situation erfolgen konnte. Diese Analyse berücksichtigt sowohl bedrohungsangepasste Sensoren und Effektoren sowie deren Interoperabilität.

Aktuelle Maßnahmen der ESSI betreffen im Schwerpunkt Effektoren und die dazugehörige Munition. Beispielsweise die Fähigkeiten zur Abwehr von unbemannten Systemen im Nahbereich, die Beschaffung von IRIS-T SLS und SLM für Nah- und mittlere Bereiche, die Weiterentwicklung der Plattform PATRIOT und die Integration von ARROW.

Für Deutschland bietet ESSI die Möglichkeit, neben der Verbesserung der Luftverteidigung, eine aktive Führungsrolle zu entwickeln. Potenzielle Handlungsfelder sind die Steigerung der Interoperabilität der unterschiedlichen Systeme, die Koordination des Fähigkeitsaufwuchses sowie die Förderung und Integration von geplanten Systementwicklungen im Rahmen der „Permanent Structured Cooperation“ (PESCO) der Europäischen Union. Thematisch verwandte Projekte wie das Vorhaben TWISTER (Timely Warning and Interception with Space-based TheatER surveillance) der PESCO sind mögliche Ergänzungen des derzeitigen ESSI-Portfolios und zugleich Brücke zur Einbindung weiterer Partner.

Ein Startgerät vom Flugabwehrraketensystem Patriot steht im Gelände der Airbase bei der NATO-Mission enhanced Vigilance Activities (eVA) in Sliač/Slowakei, am 28.04.2022.
Foto: Bundeswehr/Marc Tessensohn

Oberst i.G. Stefan Kern, Abteilungsleiter II Fähigkeitsmanagement, Planungsamt der Bundeswehr

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