Aus den Erfahrungen des Kriegsgeschehens lernen

Die seit Februar 2022 andauernde russische Vollinvasion der Ukraine hat Deutschland vor neue Herausforderungen gestellt und seitdem große Anstrengungen der Bundeswehr insgesamt und der Streitkräftebasis im Speziellen notwendig gemacht. Die sich aus der Lageentwicklung in der Ukraine deutlich abzeichnenden Problemfelder und die von Deutschland und anderen NATO-Staaten mittlerweile gewonnenen Erkenntnisse zeigen die Notwendigkeit, alle zum Russisch-Ukrainischen-Krieg verfügbaren Informationen sorgfältig und strukturiert auszuwerten. Neben eigenen Erfahrungen, wie sie beispielsweise bei der Unterstützung von Materialtransporten in die Ukraine gewonnen werden, lässt auch die Beobachtung des eigentlichen Kriegsgeschehens Rückschlüsse auf die Handlungsfähigkeit der eigenen Kräfte und auf eventuelle Anpassungsbedarfe der Bundeswehr zu. In diesem Beitrag aus der Ausgabe cpmFORUM 5/23 hat ein Autorenteam der Streitkräftebasis aufgeschlüsselt, wie die Teileinheit aus dem Kriegsgeschehen lernt.

Kriegsgeschehens: Ein Kampfpanzer LEOPARD 2 A7V fährt über die Heckrampe an Bord des DFDS RoRo-Schiffs Arc Germania im Rahmen des Seetransports der schnellen Eingreiftruppe der NATO, der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), zur Übung Noble Jump 2023 im Hafen von Emden. Foto: Bundeswehr / Susanne Hähnel
Ein Kampfpanzer LEOPARD 2 A7V fährt über die Heckrampe an Bord des DFDS RoRo-Schiffs Arc Germania im Rahmen des Seetransports der schnellen Eingreiftruppe der NATO, der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), zur Übung Noble Jump 2023 im Hafen von Emden.
Foto: Bundeswehr / Susanne Hähnel

In der Streitkräftebasis wurde der Prozess einer ganzheitlichen Auswertung bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch in die Wege geleitet. Aus der Auswertung der im Kommando Streitkräftebasis verfügbaren Informationen konnten Handlungsfelder sichtbar gemacht und zahlreiche Hinweise auf erforderliche Maßnahmen abgeleitet werden.

Eine erste Zusammenfassung von Erkenntnissen im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes wurde durch den Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, bereits im vergangenen Jahr gebilligt. Seither wurden weitere Erkenntnisse gesammelt und der Auswertebericht fortgeschrieben. Die Fortschreibung zielt dabei auf die besonderen Fähigkeiten der Streitkräftebasis und ihrer unterstellten Dienststellen.

Warum ist die Auswertung des Russisch-Ukrainischen-Kriegs für die Streitkräftebasis notwendig?

Die russische Vollinvasion der Ukraine hat deutlich gezeigt, dass ein militärischer Angriff auch in der heutigen Zeit ohne lange Vorwarnzeit und für Staatengemeinschaft sowie Gesellschaft höchst überraschend stattfinden kann. Nur aufgrund der bereits erhöhten Einsatzbereitschaft und den vorbereiteten Verteidigungsplänen konnten die ukrainischen Streitkräfte rasch und aus heutiger Sicht wirksam auf den russischen Angriff reagieren. Überträgt man diese Erkenntnis auf Deutschland und auf die Bundeswehr, so wird das Erfordernis einer ausreichenden Kaltstartfähigkeit der Streitkräftebasis und der hier insbesondere wahrgenommenen Aufgabenbereiche Logistik, ABC-Abwehr und Feldjägerwesen unmittelbar sichtbar.

Die genannten Aufgabenbereiche erbringen dabei wichtige Fähigkeiten für die Bundeswehr, die in einem Szenario der Landes- und Bündnisverteidigung über den Erfolg oder Misserfolg von Operationen oder gar des gesamten Ansatzes entscheiden können. Sie sind Teil des breitgefächerten Aufgabenspektrums der Streitkräftebasis, das weltweite Unterstützungsleistungen und bundeswehrgemeinsame Querschnittsaufgaben sowie die Rolle als Truppensteller und im Alarmwesen umfasst. Für die fachlich beauftragten Fähigkeitskommandos und für das Kommando Streitkräftebasis ist die Auswertung des weiterhin andauernden Kriegsgeschehens damit nicht nur sinnvoll, sondern im Sinne einer bestmöglichen Auftragserfüllung der gesamten Bundeswehr sogar unverändert notwendig.

Das Potenzial für Erkenntnisse im Bereich Logistik ist groß!

Kampfkraft, Einsatzwert und Durchhaltefähigkeit einer Truppe hängen erheblich von der ununterbrochenen Versorgung mit Waffen, Material, Munition, Betriebsstoff und Versorgungsgütern ab. Ergänzend wird die Moral der kämpfenden Truppenteile von einer funktionierenden oder nicht funktionierenden Versorgung erheblich beeinflusst. Damit bietet der Russisch-Ukrainische-Krieg zahlreiche Ansatzmöglichkeiten, um gravierende Problemfelder im Bereich der Logistik zu identifizieren, diesbezügliche handwerkliche Fehler einzelner Akteure zu erkennen und Fehlentwicklungen in fremden logistischen Systemen sichtbar zu machen.

In diesem Kontext kann auch das Scheitern einzelner russischer Truppenteile gewertet werden, das augenscheinlich auf eine nicht nachhaltige und gleichzeitig schlecht organisierte Folgeversorgung mit dringend benötigten Gütern zurückzuführen war. Zu diesen unverzichtbaren Gütern, die in der öffentlichen Berichterstattung, insbesondere zu Kriegsbeginn, regelmäßige und umfangreiche Berücksichtigung erfuhren, gehören unter anderem Waffen, Munition und Betriebsstoff.

Als möglicher Erklärungsansatz für die erkannte Unterversorgung können zum Beispiel strukturelle Probleme im russischen logistischen System dienen, die zu einer schlecht organisierten Folgeversorgung und den entsprechenden Bildern in den Medien führten. Eine weitere Erklärung könnte sich daraus ergeben, dass die russische Seite Widerstandwillen und -kraft der Ukrainer falsch einschätzte und daher keine langfristige logistische Versorgung ihrer Streitkräfte in der Ukraine ausplante.

In jedem Fall leitet sich für die Streitkräftebasis ab, dass das logistische System der Bundeswehr einschließlich seiner logistischen Kräfte einer steten Einsatzbereitschaft („Kaltstartfähigkeit“) mit gleichzeitig rascher Aufwuchsfähigkeit bedarf. Dafür müssen jedoch nicht nur die personellen, materiellen und prozessualen Voraussetzungen geschaffen werden, sondern es sind auch frühzeitige Planungen auf einen hoffentlich nicht eintretenden Eventualfall vorzusehen.

So gilt es, kontinuierlich an der Frage zu arbeiten, wie in künftigen Szenaren und im Kontext funktionierender logistischer Netzwerke so schnell wie nötig und so ressourcensparend wie möglich auf ausreichend belastbare Planungen bzw. Kapazitäten für den Straßentransport und für die Bahn-, Luft- und Seetransporte zurückgegriffen werden kann. Hier kommen auch zivilen Dienstleistern und nicht militärischen staatlichen Organen wichtige Rollen zu.

 Das Jägerbataillon 413 verlegt im Straßenmarsch von Torgelow nach Litauen im Rahmen der Übung Griffin Lightning, Torgelow. Foto: Bundeswehr / Marco Dorow
 Das Jägerbataillon 413 verlegt im Straßenmarsch von Torgelow nach Litauen im Rahmen der Übung Griffin Lightning, Torgelow.
Foto: Bundeswehr / Marco Dorow

Der Schutz dieses essenziellen logistischen Netzwerkes mit all seinen logistischen Einrichtungen in Deutschland und im Einsatzgebiet (am Rande des Bündnisgebietes) darf dabei nicht vergessen werden und muss entsprechend früh in allen Planungen Berücksichtigung finden. Dabei muss auf allen Ebenen auch das Bewusstsein vorhanden sein, dass eine einsatzorientierte Logistik nur dann effektiv sein kann, wenn sie über alle Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche abgestimmt ist und dabei auch multinationale Vorgaben und Rahmenbedingungen Berücksichtigung finden.

ABC-Abwehr ist ein hochbrisanter Aufgabenbereich!

Die Fähigkeit zum Kampf unter ABC-Bedingungen ist eine wesentliche Kompetenz moderner Streitkräfte und von Beginn an in allen Planungsphasen sowie bei Ausrüstung, Ausbildung und Übung zu berücksichtigen.

Mit zunehmender Dauer des Ukraine-Krieges und aufgrund offensichtlicher Misserfolge auf der russischen Seite ist eine verstärkte Bedrohung durch möglichen Einsatz von ABC-Kampfmitteln oder industriellen Gefahrstoffen wahrzunehmen. Auch für Deutschland ist der Einsatz solcher Mittel nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen. Eine solche Eskalation könnte sich in Deutschland entweder gegen militärische Ziele, gegen kritische Infrastruktur, aber auch gegen taktisch relevante Konstruktionen wie Brücken oder Staudämme richten. Eine Betroffenheit der Zivilbevölkerung ginge mit einem solchen Einsatz von ABC-Kampfmitteln unweigerlich einher.

Allerdings stellt nicht nur ein so geplanter und beabsichtigter Einsatz von Kampfmitteln eine Bedrohung dar, sondern auch die unbeabsichtigte oder gewollte Beschädigung weit entfernter Industrieanlagen oder Kraftwerke kann schwerwiegende Folgen und im Einzelfall erhebliche Auswirkungen auf Deutschland haben. Im öffentlichen Informationsraum werden aufgrund der sich verstärkenden Drohkulisse zunehmend die Möglichkeit und die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation Russlands diskutiert.

Dabei lässt sich die Frage, ob und in welcher Form solche Mittel eingesetzt würden, leider genauso wenig beantworten wie die Frage, welche Schutz-, Evakuierungs- und Gegenmaßnahmen am meisten Wirkung entfalten. Unklar ist auch, wie man sich bestmöglich auf einen solchen Eventual- oder Unglücksfall vorbereiten kann.

Und genau hier müssen kontinuierliche Betrachtungen und Planungen der Streitkräftebasis ansetzen, die mit dem unterstellten ABC-Abwehrkommando über eine einzigartige Fachexpertise im Kontext radiologischer, biologischer und chemischer Bedrohungen verfügt. Auf die sich aktuell stellenden Fragen müssen heute bereits Antworten gesucht und diese in die jeweiligen Planungsschritte eingebracht werden. Dabei liegt es auf der Hand, dass neben rein militärischen Aspekten in enger Abstimmung mit anderen betroffenen Bundesbehörden auch rein zivile Konsequenzen mitbedacht werden sollten.

Um auf einen drohenden Einsatz von ABC-Kampf-/ Gefahrstoffen angemessen reagieren und frühzeitig Präventivmaßnahmen treffen zu können, bedarf es also einer qualifizierten ABC-Abwehrberatung und fundierter Ausbildung auf allen Ebenen. Die Relevanz wurde seitens der Streitkräftebasis unmittelbar nach dem russischen Angriff erkannt und wird in zukünftigen Planungen berücksichtigt.

Feldjägerkräfte sind bei der Landes- und Bündnisverteidigung ausgesprochen vielseitig!

Im militärischen Verkehrsdienst werden Feldjägerkräfte zur Unterstützung der Truppe eingeplant. Sie unterstützen dabei die taktische und operative Bewegungsfreiheit der Streitkräfte. Im Rahmen von Transporten übernehmen sie zudem Sicherheits- und Luftsicherheitsaufgaben. Selbst im Zuge von Gewässerübergängen können Feldjäger durch Regelung des militärischen Verkehrs auf beiden Seiten der Übergangsstelle zu einem reibungslosen Ablauf und damit zu einem bestmöglichen Übergang beitragen.

Wie jeden Tag in der öffentlichen Berichterstattung sichtbar, finden die Kampfhandlungen in der Ukraine im urbanen bzw. besiedelten Umfeld oder zumindest in der Nähe von Siedlungsgebieten statt. Sie werden dabei ohne Rücksicht auf Bevölkerung und Infrastruktur geführt.

Aufgrund ihrer Vielseitigkeit konnten für den Aufgabenbereich Feldjägerwesen Bundeswehr und damit für die Streitkräftebasis mehrere Ableitungen getroffen werden. So muss die Bandbreite der Unterstützungsleistungen der Feldjägerkräfte im Bewusstsein der handelnden Personen bzw. des Führungspersonals verankert sein. Darüber hinaus wurde in der Streitkräftebasis, genauso wie in der gesamten Bundeswehr, ein Bewusstsein für neue oder bisher nicht ausreichend wahrgenommene Herausforderungen geweckt.

Solche Themen sind zum Beispiel mögliche Evakuierungen der Zivilbevölkerung, das Aufkommen einer großen Anzahl Gefallener oder die ressort- und streitkräfteübergreifende Planung und Organisation im Zusammenhang mit der Internierung, der Versorgung und dem Transport einer hohen Zahl Kriegsgefangener im Eventualfall. Diese Punkte sind aufgrund des damit verbundenen hohen Aufwands bei gleichzeitiger Zeitkritikalität verstärkt ins Kalkül zu ziehen und hinsichtlich ihrer Auswirkungen detailliert zu betrachten.

Zusammenfassung ders Kriegsgeschehens und seiner Lehren

Am 24. Februar 2022 begann Russland den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Mit diesem mittlerweile über ein Jahr andauernden Krieg veränderte sich die sicherheitspolitische Lage auf der ganzen Welt. Ein Umdenken des Westens und die Neuausrichtung der NATO begannen zwar bereits 2014 mit der Annexion der Krim, doch bis zum Kriegsbeginn in der Ukraine hielt die Allgemeinheit ein konventionelles Kriegsgeschehen in Europa für nahezu ausgeschlossen.

Rasch nach Ausbruch des Konflikts wurde in der Streitkräftebasis die Notwendigkeit erkannt, sich intensiv mit den verfügbaren Informationen auseinanderzusetzen, um dem gestiegenen Gefahrenpotenzial und den exponentiell steigenden Anforderungen gut vorbereitet zu begegnen. Es wurde daher früh entschieden, durch eine beobachtende Auswertung beider Kriegsparteien einen möglichen Mehrwert für die eigene Truppe zu generieren. In der Folge wurden seit Kriegsausbruch diverse Erkenntnisse dokumentiert sowie Folgerungen für die Streitkräftebasis abgeleitet.

Die besondere Relevanz der Kernfähigkeiten der Streitkräftebasis für eine erfolgreiche Operationsführung wurde dabei mehr als einmal deutlich. Die bisher getätigten Beobachtungen für die Aufgabenbereiche Logistik, ABC-Abwehr und Feldjägerwesen werden aufgrund der fortdauernden Kriegshandlungen zyklisch fortgeschrieben, um für einen Eventualfall bestmöglich vorbereitet zu sein. Dabei wird auch kontinuierlich zu bewerten sein, welche Folgerungen Russland aus dem laufenden Krieg zieht, lernt und umsetzt.

Außerdem muss uns bewusst bleiben, dass Folgerungen aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht unmittelbar übertragbar sind auf eine potenzielle kriegerische Auseinandersetzung mit der NATO. Allein mit Blick auf das Luft- und Seekriegspotenzial würde ein solcher Krieg sicherlich ganz andere Charakterzüge tragen, auch und insbesondere in der Dimension Land.

Autorenteam der Streitkräftebasis

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