„Wer nimmt ein acht Monate oder neun Monate altes Baby als Geisel? Wer?“, fragte der israelische Präsident Jitzchak Herzog auf der 60. Münchner Sicherheitskonferenz. Gleich mehrere Programmpunkte widmeten sich am zweiten Tag der Kriegs- und Krisenregion Gaza und einem möglichen Frieden im Nahen Osten. Darunter auch ein Interview mit Kolumnist und Mitherausgeber der Washington Post, David Ignatius, bei dem Herzog die Antwort auf seine Frage lieferte: die „Ideologie des extremen Islam“. Er forderte: „Die Welt muss sagen: Hört auf, wir haben es satt, wir werden mit aller Kraft gegen euch kämpfen, bis das aufhört, denn wir können nicht akzeptieren, dass so etwas in der heutigen Zeit passiert.“
Nach Bekanntwerden des Vieraugengesprächs zwischen Präsident Herzog und dem Premierminister von Katar, Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, bezog sich die erste Frage des Interviews unter dem Titel „Auf dem Weg zu Stabilität und Frieden im Nahen Osten: Israels Vision“ auf den aktuellen Stand der Verhandlung zur Freilassung der Geisel. „Ich war beeindruckt“, sagte Präsident Herzog, „dass der Premierminister von Katar sehr gut informiert und in viele Details eingebunden ist, auch gegenüber den Ägyptern.“
Präsident Herzog lobte die Gespräche, die unter Vermittlung Katars stattfinden, bemerkte aber auch: „Es ist kompliziert, es ist schwierig. Man muss sicherstellen, dass wir wissen, ob es auf der anderen Seite jemanden gibt, der überhaupt Entscheidungen treffen kann. Schließlich haben wir es mit Menschen zu tun, die überall im Gazastreifen versteckt und verstreut sind, meist in den Tunneln.“
Die dezentrale Unterbringung der Geiseln und das ebenso dezentrale Vorgehen der Hamas würden die Verhandlungen deutlich verkomplizieren. Fest steht für Herzog jedoch die unbedingte Dringlichkeit der Freilassung für ein Ende des gegenwärtigen Kriegs. Ein Krieg, der sich nicht nur auf Gaza und die Palästinenser beschränkt, sondern beispielsweise mit Raketenbeschuss durch die Huthi-Miliz auf Schiffe im Roten Meer Auswirkungen auf die ganze Region hat.
Frieden im Nahen Osten: Integration Israels
„Wir haben Nationen, die gemeinsam mit Israel auf die Integration Israels in die Region zusteuern, Israel anerkennen und Frieden mit Israel anstreben“, sagte Präsident Herzog und führte die Friedensschlüsse mit arabischen Ländern in den letzten Jahrzehnten aus – beginnend bei Ägypten 1979 bis zu den Friedensabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, sowie den Königreichen Bahrain und Marokko in 2020. Die heutige Annäherung an Saudi-Arabien hält Präsident Herzog für einen „entscheidenden Wendepunkt“, der die Entwicklung der Region verändern könne.
Doch man müsse das ganze Bild vor Augen haben und verstehen, was der amerikanische Präsident Biden auf dem G-20-Gipfel im vergangenen Jahr meinte, als er von Frieden im Nahen Osten und seiner Vision einer Verbindung von Israel bis nach Indien sprach und einen Korridor für Verständigung, Transport und Energie vom östlichen Mittelmeer bis nach Südostasien meinte. Der israelische Präsident ordnet den Angriff der Hamas auf Israel als iranischen Versuch ein, diese Vision zu torpedieren.
Es sei klar, „dass ein von Teheran ausgehendes Reich des Bösen alles unternimmt, was in seiner Macht steht, um den Prozess der Normalisierung mit Israel zum Scheitern zu bringen. […] Es werden Milliarden von Dollar ausgegeben, nur um die Stabilität unserer Region zu gefährden, was zu Chaos, Schmerz und so viel Tragödie für die Menschen führt.“ Der Friedensprozess mit Saudi-Arabien wäre demnach allen voran auch ein Sieg über Iran.
Die „Ideologie des extremen Islam, die uns von der Landkarte tilgen will“
Hier liegen Unstimmigkeiten im Konflikt, denn während heute Frieden im Nahen Osten mit Saudi-Arabien von Israel angestrebt wird, galt das Land nicht erst seit dem 11. September als Finanzquelle für wahhabitisch-sunnitischen Terrorismus. Auf der anderen Seite ist es der schiitische Iran, der sunnitische Palästinenser mit Raketen versorgt.
„Wir haben es mit einer Ideologie des extremen Islam zu tun, die uns von der Landkarte tilgen will“, erklärt Präsident Herzog und stellt klar, dass er nicht den Islam als solchen meint. „Ich glaube an einen Dialog mit dem Islam, und Sie wissen, dass es viele muslimische Länder gibt, die sich für Frieden einsetzen und vorankommen.“
Als Beispiel für die für Frieden im Nahen Osten zu bekämpfende Ideologie des extremen Islams hat Präsident Herzog ein Buch mitgebracht, welches von israelischen Soldaten in Gaza gefunden wurde. „Das Buch heißt Nihayat al-Yahud, was ‚Das Ende der Juden‘ bedeutet“, erklärt Herzog. „Dieses Buch wurde von Dr. Mahmoud al-Zahar geschrieben, einer der Gründer der Hamas, und es bejubelt den Holocaust. Es bejubelt, was die Nazis getan haben, und fordert die Nationen auf, dem zu folgen.“
So groß das Verständnis für eine Verteidigung gegen diese Ideologie auch ist, mehren sich kritische Stimmen hinsichtlich des Ausmaßes. So bezeichnete der norwegische Ministerpräsident Jonas Gahr Støre, ebenfalls auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die hohen Opferzahlen unter den Zivilisten in Gaza als eine „unverhältnismäßige Reaktion“, die von der Welt nicht einfach so hingenommen werden könne.
Präsident Herzog verwies hingegen auf die enorme finanzielle Stärke der Hamas und ihre verborgene und verzweigte Lage in kilometerlangen Tunnelsystemen: „Wenn man die Terror-Infrastruktur zerstören will, um den Palästinensern und Israelis eine bessere Zukunft zu ermöglichen, muss man physisch vorgehen. Dabei befolgen wir die Regeln des humanitären Völkerrechts.“ Herzog benennt die Warnungen vor israelischen Angriffen, die ausgewiesenen Schutzzonen und die Bereitstellung von Hilfsgütern für Zivilisten – auch über israelische Grenzübergänge.
Dass beim Kampf gegen die Hamas und der Befreiung der verbliebenen Geiseln auch viele Zivilisten sterben, weiß Herzog, doch er beteuert: „Wir versuchen, den richtigen Weg zu finden, dies mit der geringsten Zahl an Opfern zu bewerkstelligen.“
„Ich glaube fest daran, dass Israelis und Palästinenser Frieden verdienen“
Gewalt erzeugt Gegengewalt. Als für den Frieden im Nahen Osten hoffnungsvoller Punkt, an dem diese Spirale durchbrochen werden könnte, gilt die Zwei-Staaten-Lösung. Trotz eindeutiger Ablehnung seitens der israelischen Regierung und der Hamas halten viele Politiker außerhalb von Israel und Palästina an ihr fest.
Präsident Herzog galt ebenfalls als Verfechter einer Zwei-Staaten-Lösung und hat dies immer wieder bekräftigt – das war allerdings vor dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Heute sagt er: „Ich bin zu dem klaren Schluss gekommen, dass man einen friedlichen Prozess mit seinen Nachbarn nicht akzeptieren kann, solange diese Terror verüben.“
Für ihn wurde die Zwei-Staaten-Lösung als Garant für Frieden im Nahen Osten durch den Angriff der Hamas an den Horizont verschoben. Die Israelis hätten ein Trauma erlitten, um das es sich jetzt zu kümmern gelte. Trotz des erlittenen Leids klingt in Herzogs Worten Hoffnung mit: „Ich glaube fest daran, dass Israelis und Palästinenser Frieden verdienen und dass sie Mittel und Wege finden sollten, um sich in Richtung Frieden zu bewegen, und dass der zugefügte Schmerz nicht erneut auftreten darf.“
Herzog erkennt das Problem der Siedler an – aber nicht grundsätzlich
„Ich verurteile jede Gewalttat und jeden Aufruf zur Gewalt gegen unschuldige Zivilisten, natürlich auch gegen Palästinenser“, versicherte Präsident Herzog nach der letzten Frage des Moderators und verwies auf den funktionierenden israelischen Rechtsstaat.
„Die Frage ist, wie gehen wir damit um? Führen wir Strafmaßnahmen durch, verhaften wir, ermitteln wir? […] Etwa eine halbe Million Menschen leben außerhalb der Grenzen von ’67. Doch 99,5 Prozent von ihnen sind unschuldige und ehrliche, würdevolle Bürger Israels, die nur Gutes tun. Es gibt einige – ein paar Hundert von ihnen – die sich schlecht verhalten und wir nehmen uns derer an.“
Doch eine Lösung bezüglich der Siedler im Westjordanland ist eben nur ein Teil des israelisch-palästinensischen Konflikts im Ringen um Frieden im Nahen Osten. „Wir müssen eine Vision der Hoffnung bieten“, ist Präsident Herzog überzeugt.
„Wir glauben tatsächlich, dass die Überwindung dieser Krise auch eine neue Sicherheitsinfrastruktur in der Region schafft, weil die Region verstanden hat, dass sie von bösen Mächten angegriffen wird, die vom Iran gesteuert werden. Ich denke, wir müssen die Operation abschließen, uns dann mit dem Wiederaufbau von Gaza befassen und dann – natürlich aufrichtig und offen – mit der Region in einen Dialog über die Zukunft treten.“
Das aber ist der zweite Schritt, der erst nach dem ersten erfolgen kann. Daher beendet der israelische Präsident das Interview mit den Worten: „Vor allem anderen geht es darum, die Geiseln nach Hause zu bringen – sofort.“
Navid Linnemann
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