Das Heer bereitet sich auf den „Kampf heute Nacht“ vor

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine herrscht in der Politik und den Streitkräften Konsens darüber, dass die Bundeswehr schnellstmöglich wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) befähigt werden muss. Bis 2024 gab es kein Datum, bis zu dem diese Befähigung abschließend erreicht werden sollte. Eine Festlegung erschien, solange ein Großteil der russischen Streitkräfte durch den Krieg gegen die Ukraine gebunden war, als unnötig, da ein Angriff auf einen Bündnispartner der NATO als unwahrscheinlich bewertet wurde. Im folgenden Gastbeitrag aus dem cpmFORUM geht Generalleutnant Harald Gante, Kommandeur Feldheer im Kommando Heer, der Frage nach, inwieweit sich diese Betrachtung verändert hat und welche Vorbereitungen das deutsche Heer daraufhin trifft.

Das Heer bereitet sich auf den „Kampf heute Nacht“ vor: Luftlandekräfte nach dem Sprungeinsatz während einer Übung in Rukla, Litauen. Foto: Bundeswehr / Maximilian Schulz
Luftlandekräfte nach dem Sprungeinsatz während einer Übung in Rukla, Litauen.
Foto: Bundeswehr / Maximilian Schulz

Mittlerweile werden die Potentiale Russlands und seiner Streitkräfte anders bewertet. Bereits in fünf Jahren könnten die Rekonstitution und der Aufwuchs der russischen Streitkräfte abgeschlossen sein. Ein vollumfänglicher Angriff Russlands auf einen NATO-Staat könnte trotz anhaltender Bindung russischer Truppen im Ukrainekrieg damit bereits in 2029 erfolgen; die Durchsetzung einer begrenzten Ambition ab sofort und jederzeit.

Seit Ausruf der Zeitenwende sind nun über zwei Jahre vergangen. Die Bundeswehr und vor allem die Landstreitkräfte müssen schneller an Kriegstüchtigkeit gewinnen. Wenn Russland den Entschluss fällt, uns anzugreifen, dann solange wir schwach aussehen. Wir müssen bereits heute ohne Einschränkungen einsatzbereit für die Landes- und Bündnisverteidigung werden. Wie Mittel für dieses Ziel priorisiert und eingesetzt werden, hängt auch von der Vorstellung ab, wie sich ein Krieg gestalten wird und vor allem wann dieser geführt werden muss. Dieses sogenannte Kriegsbild bietet somit Orientierung für unser tägliches Handeln.

Ein Kriegsbild umfasst alle Facetten eines hypothetischen gegenwärtigen oder zukünftigen Krieges. Es kann für die Zielbildung herangezogen werden und Messbarkeit für die Fähigkeitsentwicklung, Struktur und Doktrin von Streitkräften schaffen. Aus der Strategischen Vorausschau des Planungsamtes der Bundeswehr werden solche Kriegsbilder für die 2040er Jahre abgeleitet. Dies war in Anbetracht jahrelanger Beschaffungsvorgänge und jahrzehntelanger Nutzungszeiten eine wichtige Grundlage zur Konzeption, Auswahl und Priorisierung von Waffensystemen für eine zukunftsfeste Bundeswehr.

Jedoch darf der Plan für eine zukunftsfeste Bundeswehr nicht der Bundeswehr im Hier und Jetzt im Wege stehen. Unter der derzeitigen Bedrohungslage und der knappen Zeit zur Herstellung unserer Kriegstüchtigkeit, reicht es nicht mehr, das potentielle Schlachtfeld der Zukunft zu analysieren und zur Priorisierung heranzuziehen. Vielmehr müssen wir zuvorderst das derzeit zu erwartende Kriegsbild – zumindest für die Zeit bis 2029 – als Maßstab für Priorisierungsentscheidungen anlegen. Das Spannungsfeld zwischen „Auffüllen des Heeres zur Kriegstauglichkeit mit verfügbarer Technik“ und „Beschaffung zukunftsfähiger Systeme für zukünftige Kriege“ wird damit bis auf Weiteres die Fähigkeitsentwicklung beeinflussen.

Erkenntnisse aus dem Ukrainekrieg

Der Kampf der ukrainischen Streitkräfte gegen die russischen Invasoren sollte nicht pauschal als Blaupause für das Gefecht der NATO-Streitkräfte herangezogen werden. Trotzdem müssen wir Beobachtungen aus dem Ukrainekrieg analysieren und auch zur Weiterentwicklung unseres eigenen Kriegsbildes heranziehen.

Kampfpanzer LEOPARD 2A7V auf dem Truppenübungsplatz Bergen. Foto: Bundeswehr / Martin Glinker
Kampfpanzer LEOPARD 2A7V auf dem Truppenübungsplatz Bergen.
Foto: Bundeswehr / Martin Glinker

Es ist zwar mittelfristig Ziel der NATO, den russischen Streitkräften so überlegen zu sein, dass sie einen Angriff bereits nach kurzer Zeit zurückwerfen kann, doch die Sicherheit, dass dies gelingt, gibt es nicht. Wir müssen uns, wie in der Ukraine, auf einen langwierigen Krieg einstellen. Dazu brauchen wir die Fähigkeiten, die Versorgung mehrerer Divisionen im Gefecht und zum Feldersatz über mehrere Jahre aufrechterhalten zu können.

Derzeit übernehmen die Staaten der EU und der NATO einen wichtigen Anteil für die Ausbildung des Feldersatzes der ukrainischen Streitkräfte. Wir selbst können uns nicht darauf verlassen, dass in Kriegszeiten andere Nationen die Kapazitäten haben, uns bei der Ausbildung des deutschen Feldersatzes dabei zu unterstützen. Besonders kritisch wird die Phase zwischen dem Einsatz der aktiven Truppenteile des Heeres und dem Anlaufen eines Feldersatzwesens sein. Hier wird die Reserve als Brücke zwischen den aktiven Soldatinnen und Soldaten und den Ungedienten eine tragende Rolle spielen müssen.

Bei Betrachtung eines solchen Kriegsbildes wird auch die Notwendigkeit einer taktischen Führungsfähigkeit des Heeres deutlich. Auch nach der Übernahme der taktischen Führung von Kräften des Feldheeres durch die NATO werden zahlreiche Truppen in Deutschland verfügbar sein müssen, um kritische Infrastruktur zu schützen und den Aufwuchs Deutschlands und seiner Alliierten an der NATO-Ostflanke sicherzustellen. Dies betrifft nicht nur, aber in ganz besonderem Maße, die Kräfte des Heimatschutzes.

Zudem führt uns ein Kriegsbild, das Beobachtungen aus dem Ukrainekrieg einbezieht, unsere Defizite in der Ausstattung des Heeres schonungslos vor Augen. Kritische Lücken finden sich bei unserer Führungsfähigkeit, der Führungs- und Einsatzunterstützung, der Ausstattung mit unbemannten Systemen zur Gefechtsfeldbeobachtung und Wirkung, der Fähigkeit zur Flugabwehr im Nächstbereich inkl. der Drohnenabwehr sowie weitreichendem, indirektem Feuer.

In vielen Fällen wurde bereits die Beschaffung zahlreicher Rüstungsprojekte beschlossen, doch das vollständige Schließen dieser Lücken wird noch bis Mitte des kommenden Jahrzehnts dauern. Schließlich lernen wir aus dem Ukrainekrieg, dass Quantität neben der Qualität von Waffensystemen eine wichtige Rolle spielt. Wir benötigen Vollausstattung in der aktiven und der nicht-aktiven Truppe. Gegebenenfalls bedeutet dies auch, dass wir bei Rüstung und Beschaffung zum Erhalt unseres Levels of Ambition noch mehr als bisher den Faktor „Verfügbarkeit“ berücksichtigen müssen.

Die fehlende Vollausstattung der Verbände und Großverbände des Heeres mit Material und Großgerät hat schwerwiegende, sekundäre Folgen. Denn das beste Gerät wird uns nichts nützen, wenn es der Truppe an Erfahrung im Umgang damit fehlt, wenn es schlichtweg zu spät kommt. Zurzeit haben die Soldatinnen und Soldaten des Heeres viel zu selten Gelegenheit, mit ihrem Großgerät zu üben. Noch mehr als bisher müssen wir daher „Zeit“ als den kritischen Faktor bei der Beschaffung betrachten.

Die dabei zugrunde gelegte Zeit darf nicht mit Billigung der 25-Millionen-Euro-Vorlage enden, sondern mit dem Zulauf des letzten Waffensystems in der Truppe. Als Kommandeur des Feldheeres akzeptiere ich, dass nicht die jüngsten Innovationen für ein Rüstungsvorhaben berücksichtigt werden, wenn dafür das von der Truppe benötigte Material zügig und in hoher Stückzahl zuläuft.

Minenräumpanzer KEILER beim Schaffen einer Minengasse zum Fördern von Bewegungen.
Minenräumpanzer KEILER beim Schaffen einer Minengasse zum Fördern von Bewegungen.
Foto: Bundeswehr / Marco Dorow

Denn es gibt durchaus pragmatische Lösungen, die durch den Rückgriff auf marktverfügbare Lösungen schnell Lücken schließen oder zumindest verringern können. Die Maßnahme der Task Force Drohne, in den nächsten beiden Jahren 1.000 marktverfügbare Drohnen einzukaufen und an die Teilstreitkräfte zu verteilen, wird helfen, das Problem anteilig zu adressieren.

Auch für die Beschaffung weiterer Beobachtungsdrohnen und bewaffneter Drohnen, die im heutigen Kriegsbild auf nahezu allen Führungsebenen des Deutschen Heeres verfügbar sein müssen, sollten wir nicht nur unseren Beschaffungsprozess nutzen, sondern weiterhin auf marktverfügbare Produkte zurückgreifen. So kann außerdem die neuste Technik im Bereich der unbemannten Fahrzeuge, unabhängig ob in der Luft, zur See oder an Land, schnell adaptiert werden.

Beobachtungen aus dem Ukrainekrieg dürfen natürlich nicht unreflektiert als Lehren und in ein Kriegsbild des Heeres übernommen werden. Vorsicht ist beispielsweise bei den Schlüssen, die wir aus den stark befestigten russischen Stellungen und Sperrgürteln ziehen, geboten. Die Möglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte zum freien Operieren sind dadurch stark eingeschränkt.

Diese Beobachtung darf nicht zwangsläufig dazu führen, dass wir unsere Landstreitkräfte auf einen Stellungskrieg ausrichten. Wir müssen vielmehr die Frage beantworten, wie wir gegen die starken Sperrmittel der russischen Streitkräfte und einer nahezu lückenlosen Gefechtsfeldbeobachtung unsere eigene Operationsfreiheit bewahren könnten. Ansonsten laufen wir Gefahr, eine Stärke unseres Heeres, das freie Operieren, aufzugeben.

Der Nutzen eines Kriegsbildes in der Ausbildung und Übung

Das Anlegen eines Kriegsbildes, das in aktuellen Beobachtungen begründet ist, hat über die Zielbildung, Fähigkeitsentwicklung und Beschaffung hinaus einen Nutzen für eine zielgerichtete, wirklich kriegstaugliche Ausbildung unserer Einheiten und Verbände.

Wir benötigen an unseren Übungseinrichtungen und in unserer Truppenausbildung eine realistische Darstellung des Feindpotentials, an denen wir unsere eigenen Fähigkeiten messen und schärfen können. Übungserfolg darf nicht „vorprogrammiert“ sein, indem wir am letzten Ausbildungs- oder Übungstag die zum Feind eingeteilte Truppe mit auf dem Rücken festgebundener Hand kämpfen lassen oder indem von vornherein Fähigkeiten ausgeblendet werden, weil wir vermeintlich keine Gegenmaßnahmen dagegen haben.

Mit dem Festhalten an einem anspruchsvollen Kriegsbild als Maßstab für die Ausbildung und Übung geht auch die Notwendigkeit einher, mit Fehlschlägen konstruktiv umzugehen. Ein Kommandeur darf nicht als ungeeignet für seinen Dienstposten abgestempelt werden, wenn er im Gefechtsübungszentrum von einem leistungsfähigen Feind geschlagen wird. Solche Niederlagen eröffnen erst die Möglichkeit, Schlüsse zu ziehen, um tatsächlich besser zu werden. Zudem wirft es ein fragwürdiges Bild auf unsere Personalauswahl, wenn wir unseren Führern nicht zutrauen, mit Rückschlägen nutzbringend umzugehen.

PANZERHAUBITZE 2000 beim Gefechtsschießen in Pabradė, Litauen. Fotos: Bundeswehr / Marco Dorow
PANZERHAUBITZE 2000 beim Gefechtsschießen in Pabradė, Litauen.
Foto: Bundeswehr / Marco Dorow

Niederlagen sind ohnehin nicht zwingend Resultat einer schlechten Führerleistung, sondern können auch in fehlender Ausstattung oder untauglichen Strukturen begründet liegen. Wenn wir unsere Truppe fit für den „heutigen“ Krieg machen wollen, dann müssen unsere Truppenführer lernen, Defizite durch Anpassungsfähigkeit zu verringern.

Damit soll die Verantwortung, Fähigkeitslücken zu schließen, nicht einfach auf die unteren Führungsebenen abgeschoben werden. Jedoch hilft es genauso wenig, sich auf jahrelange Beschaffungsvorgänge verlassend die Hände in den Schoß zu legen. Es wäre illusorisch anzunehmen, dass ein Führer zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft frei von einem Mangel an Gerät, Personal oder Fähigkeiten sein kann. Dies gilt umso mehr in Kriegszeiten, in denen Friktionen und Ausfälle stets den Idealzustand verhindern.

Schlussbetrachtungen

In unseren Streitkräften und darüber hinaus herrscht Einigkeit darüber, dass die Bundeswehr schnellstmöglich kriegstüchtig werden muss. Doch wir können jeden Euro nur einmal ausgeben – das Auffüllen der Lücken heute mit bestehender Technik schiebt die innovative Entwicklungslösung für das Gefecht der Zukunft auf der Zeitachse nach rechts. Das ist mit Blick auf die aktuelle Lage allerdings zu ertragen.

An vielen Rahmenbedingungen kann das Heer nichts ändern. Der Zulauf von Material ist nicht nur durch Finanzmittel begrenzt, sondern auch von den Produktionskapazitäten der Industrie. Es liegt jedoch in unseren Händen, ein realistisches Kriegsbild als Maßstab anzulegen, um pragmatisch Defizite aufzufangen. Denn ein Verschließen der Augen vor der Gefahr eines „Kampfes heute Nacht“ können sich die Soldatinnen und Soldaten des Deutschen Heeres nicht leisten. Der Preis, den sie – und somit wir alle – in diesem Fall zu zahlen haben, ist dafür zu hoch.

Autor:

Generalleutnant Harald Gante,
Kommandeur Feldheer im Kommando Heer

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