Kritik am zukünftigen Standard-Sturmgewehr der Bundeswehr

Anfang der Woche übermittelte der Bundesrechnungshof ein Analysepapier zum Beschaffungsvorgang Nachfolge des G36 „Sturmgewehr Bundeswehr“ (Sturmgewehr Bw – G95) an Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Das Dokument liegt cpm Defence Network vor. Dieses Papier zeigt in aller Deutlichkeit, warum eine Zeitenwende in der deutschen Bürokratie und der davon abhängigen Beschaffung dringend notwendig ist. Und dass diese Zeitenwende nicht überall angekommen ist.

Hier zu sehen das Sturmgewehr G95K für die Spezialkräfte, das bereits in die Bundeswehr eingeführt wurde.
Hier zu sehen das Sturmgewehr G95K für die Spezialkräfte, das bereits in die Bundeswehr eingeführt wurde.
Foto: Bundeswehr/KSK

Doch zurück zum Anfang. Das Standardsturmgewehr ist das Rückgrat der Bundeswehr. Es unterscheidet gewissermaßen den Zivilisten in Tarngrün vom kämpfenden Soldaten. Wenn eine Armee aufwächst – und das muss die Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung – dann muss auch die Zahl der Sturmgewehre aufwachsen. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass die aktuell bereits vorhandenen G36 weiter genutzt werden, erst in kämpfenden Verbänden, dann durch die Reserve. Schließlich müssen auch Reservisten mit einer Waffe in der Hand kämpfen, sollen sie sinnvoll zur Verteidigung Deutschlands eingesetzt werden.

Das dargestellte Szenar nahm seinen planerischen Anfang allerdings noch vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, der Zeitansatz war entsprechend geruhsam, um es vorsichtig auszudrücken. Das BMVg sah nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs allerdings die Notwendigkeit, die Beschaffung zu beschleunigen, sodass die Bundeswehr schneller aufwachsen und die Reserve besser ausgestattet werden kann. Das BAAINBw eruierte mit dem Hersteller Möglichkeiten zur Beschleunigung.  Zur Lösung beitragen soll etwa eine frühere Festlegung des Konstruktionsstands oder eine Vereinfachung der Nachweisführung. Genau dieses Vorgehen kritisiert nun allerdings der Bundesrechnungshof.

Der Inhalt des Änderungsvertrags

Zu den Nachweispflichten sei etwa mit dem „Waffenhersteller vereinbart worden, Fehlereinflüsse bei den Präzisionsuntersuchungen soweit wie möglich zu reduzieren (Laborbedingungen) und eine zivile Präzisionsmunition zuzulassen“, schreibt der Bundesrechnungshof und schließt: „Die nunmehr zulässigen Laborbedingungen und die zivile Präzisionsmunition lassen einen realistischen Nachweis der Präzision des Systems Sturmgewehr Bw nicht zu.“

Genauer aufgeschlüsselt schreibt der Bundesrechnungshof: „Das BAAINBw vereinbarte Änderungen der Nachweispflichten. Zulässig sind nunmehr:

  • statt eines Zielfernrohres eines Sturmgewehrs ein Zielfernrohr eines Scharfschützengewehres,
  • statt eines NATO-Schießbocks ein herstellereigener Präzisionsschießbock,
  • statt drei Sekunden Abstand drei bis sechs Sekunden Abstand zwischen einzelnen Schüssen,
  • statt der eingeführten Gefechtsmunition der Bundeswehr besonders präzise Gefechtsmunition der Bundeswehr oder eine ausgewählte zivile Präzisionsmunition und
  • statt temperierter (von -30 bis 52 °C) Munition, Munition bei Raumtemperatur (21 °C).“

Des Weiteren schrieb der Bundesrechnungshof zum Änderungsvertrag: „Die Leitung des BAAINBw akzeptierte die Änderungswünsche und schloss am 23. Januar 2023 einen Änderungsvertrag. Inhalt des Änderungsvertrages sind

  • eine Begrenzung von Garantie- und Gewährleistungsansprüchen,
  • geänderte Nachweispflichten und
  • Zusatzleistungen.“

Laut dem Bundesrechnungshof wurde der Inhalt des Änderungsvertrages allerdings durch die zukünftigen Nutzer nicht kritisiert, sondern vielmehr nur das Zustandekommen. „Die Abteilung Planung des BMVg, das Planungsamt der Bundeswehr und alle Vertreter der nutzenden Organisationsbereiche kritisierten, „dass das IPT nur einen nachträglichen Informationscharakter trage und keine Mitbestimmung der nunmehr vorgenommenen Änderungen durch das IPT möglich sei. Es wird festgestellt, dass der zukünftige Nutzer bei der Erarbeitung, Abstimmung und Beurteilung der Änderungen der Abnahmekriterien <entspricht Nachweispflichten, Anm. Bundesrechnungshof> nicht eingebunden war.“

Präzision oder nicht Präzision

Der Bundesrechnungshof kritisiert im Verlauf der Analyse die Präzision des neuen Sturmgewehres. „Die Bundeswehr benötigt ein Sturmgewehr, das mit der eingeführten Gefechtsmunition unter realen Bedingungen ausreichend präzise trifft. Dies kann das BAAINBw für das Sturmgewehr Bw aufgrund eines Änderungsvertrages mit dem Waffenhersteller nicht mehr sicherstellen. Die nunmehr zulässigen Laborbedingungen und die zivile Präzisionsmunition lassen einen realistischen Nachweis der Präzision des Systems Sturmgewehr Bw nicht zu“, beschreibt der Bundesrechnungshof und führt fort: „Aktuelle Untersuchungen der Bundeswehr unter Laborbedingungen zeigen, dass das Sturmgewehr Bw Präzisionsforderungen der Nutzer mit der eingeführten Gefechtsmunition nicht erfüllt. Diese erreicht es allerdings mit der zivilen Präzisionsmunition. Somit sind die mit dem Änderungsvertrag vereinbarten Nachweispflichten erfüllt. In der Folge kann das BAAINBw keine Nachbesserung vom Waffenhersteller einfordern.“

Hintergrund hierfür ist allerdings, dass die bisher in der Bundeswehr genutzte DM11 aufgrund der Chemikalienverordnung der EU gar nicht mehr hergestellt werden darf. Sie ist nicht umweltfreundlich genug. Die neue, den Ansprüchen der Verordnungen genügende DM11A1 befindet sich allerdings aktuell erst in der Qualitätsprüfung, konnte also gar nicht in der Erprobung des neuen Sturmgewehrs genutzt werden. Deshalb kam eine ähnliche Munition in der Erprobung durch das BAAINBw zum Einsatz – und diese erfüllte die Anforderungen, wie cpm Defence Network erfahren konnte. Auch der Bundesrechnungshof schreibt: „Die Waffenhersteller haben über das Jahre dauernde Projekt hinweg zugesagt, dass die Präzisionsforderungen mit der eingeführten Gefechtsmunition unter realen Bedingungen erfüllt würden. Dies hat das BAAINBw während der Vergleichserprobung auch für die Angebote aller Hersteller nachgewiesen.“

Neuer Zeitplan

Der Vorteil all der zwischen BAAINBw und dem Hersteller Heckler & Koch vereinbarten Änderungen liegen in der Beschleunigung, wie auch der Bundesrechnungshof feststellt: „So sollen die ersten Systeme Sturmgewehr Bw statt im Jahr 2026 bereits Ende des Jahres 2025 geliefert werden.“

Für die Beschleunigung ist natürlich eine frühere Festlegung des Konstruktionsstands notwendig. „Der Abteilungsleiter Ausrüstung im BMVg legte hierzu mit einem Tischgespräch am 16. Juni 2023 die Vorgehensweise fest. Diese beinhaltet das Verschieben von Teilen der Integrierten Nachweisführung in die Nutzungsphase, die Vergabe von Untersuchungen an Dritte und die Festlegung von Konstruktionsständen vor Abschluss der Integrierten Nachweisführung“, berichtet der Bundesrechnungshof. „Der Waffenhersteller teilte bei einer Besprechung am 27. Juni 2023 mit, dass eine Lieferung der Basiswaffen ab dem Jahr 2025 nur möglich sei, wenn ein Konstruktionsstand bis 30. Juni 2023 verbindlich festgelegt werde. Dieser Konstruktionsstand unterscheidet sich von den Konstruktionsständen A und B.“

Letzteres war erwartbar, weil das Serienmodell im Grunde nie den Erprobungsmodellen vollständig entspricht, da Hinweise der Nutzer aus der Erprobung einfließen und eine Neubewertung von Kosten und Nutzen einzelner Elemente der Waffe stattfindet. „So reduziere sich die Vergütung des Waffenherstellers um rund sieben Mio. Euro durch den Verzicht der Forderung nach einer höhenverstellbaren Schulterstütze“, berichtet der Bundesrechnungshof.

Wie die früheren, geruhsamen Beschaffungsprozesse abliefen, stellt der Bundesrechnungshof übrigens auch dar: „Das BAAINBw erläuterte den Nutzern in der Besprechung, dass Änderungen aufgrund der Erkenntnisse der Integrierten Nachweisführung frühestens 2027 umgesetzt werden könnten. Bis dahin seien mindestens 40 000 Sturmgewehre der Bundeswehr geliefert.“

Wenn man also den Empfehlungen des Bundesrechnungshofes folgen würde und den endgültigen Konstruktionsstand erst nach dem Abschluss der Integrierten Nachweisprüfung durchführt – und danach erst die Serienproduktion einleitet – dann kämen die ersten neuen Sturmgewehre Bundeswehr erst nach 2027, wahrscheinlich sogar 2028 in die Bundeswehr. Die ersten. Der Bundesrechnungshof stellt hier also eindeutig – wie in den Zeiten vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine – den Prozess in den Vordergrund, nicht das Ergebnis. Besser gar kein Sturmgewehr, als ein nicht vollumfassend und für alle Temperaturzonen und alle Munitionsarten getestetes.

Nicht einsetzbares Sturmgewehr

Eine Kritik des Bundesrechnungshofes wiegt allerdings schwer. „Die Bundeswehr wird, anders als vorgesehen, keine vollumfänglich nutzbaren Sturmgewehre erhalten“, schreibt der Bundesrechnungshof und führt weiter aus: „Voraussetzung für die vorgesehene Nutzung des Systems Sturmgewehr Bw und damit den Ersatz des G36 ist ein Projektfortschritt bei Ausbildungsmitteln, beim Aufbau der Logistik der Waffe, bei Abschussgeräten 40 mm, bei waffengebundenen Nachtsichtmitteln und bei Fahrzeuganpassungen. Diese Voraussetzungen sind nicht vor dem Jahr 2027 zu erwarten.“

Hier kritisiert der Bundesrechnungshof also, dass die Waffe durch die beschleunigte Beschaffung erst dann vollumfänglich nutzbar wären, wenn zum ursprünglich – und vom Bundesrechnungshof geforderten – Ablauf ein finaler Konstruktionsstand festgelegt worden wäre.

Den Zeitablauf der einzelnen zusätzliche Maßnahmen und Beschaffungen zur vollumfänglichen Nutzung des neuen Sturmgewehr Bw beziffert der Bundesrechnungshof: „Das Sturmgewehr Bw unterscheidet sich vom G36. Um das G36 vollwertig zu ersetzen und das Sturmgewehr Bw wie vorgesehen einsetzen zu können, sieht die Bundeswehr mindestens folgende Maßnahmen vor:

  • neues Abschussgerät 40 mm (bei optimalem Projektverlauf ab 2026),
  • neue Systeme waffengebundene Nachtsicht (bei optimalem Projektverlauf ab 2027),
  • Ausbildungsmittel AGSHP (bei optimalem Projektverlauf ab 2027),
  • Ausbildungsmittel AGDUS (bei optimalem Projektverlauf ab 2027),
  • Aufbau Logistik (Dokumentation, Sonderwerkzeuge usw. stehen aus) und
  • Anpassung von Fahrzeugen (noch nicht begonnen, Umrüstung fast aller Fahrzeuge der Bundeswehr erforderlich).“

Wäre der Beschaffungsvorgang weiterhin seinem geruhsamen Weg gefolgt, dann wäre das neue Sturmgewehr tatsächlich besser in diese Beschaffungen eingebunden, da es deutlich später in die Truppe käme. Allerdings sind keine der genannten Voraussetzungen unbedingt notwendig, um ein Sturmgewehr zu nutzen. Auch hier folgt der Bundesrechnungshof wieder seiner Linie: Besser gar nichts als etwas nicht Perfektes.

Doch ist dies in Zeiten eines drohenden Krieges wirklich noch der angemessene Weg? Zeigt nicht gerade die Ukraine in ihrem verzweifelten Freiheitskampf, dass man auch Masse auf das Gefechtsfeld bringen muss? Die Landes- und Bündnisverteidigung erfordert jedenfalls Masse, schließlich müssen die zusätzlichen Soldaten Waffensysteme an die Hand bekommen.

Das Jahr 2024 hat gerade erst begonnen, wenn die ersten Sturmgewehre Bw dank der beschleunigten Beschaffung im Jahr 2025 zulaufen, dann ist auch das nicht wirklich Warp-Geschwindigkeit. Aber es ist deutlich besser als ein Zulauf in 2027+, wie er sich als Konsequenz aus den Forderungen des Bundesrechnungshofes ergibt. Haben ist immer besser als brauchen, auch wenn am Anfang vielleicht einzelne Funktionen, wie das Abschussgerät 40 mm, fehlen. Auch das ist ein Zeichen für die Kriegstauglichkeit einer Verwaltung, ob Verfahren sich im Angesicht der Bedrohung beschleunigen lassen. Das BAAINBw hat hier ebenso Flexibilität bewiesen wie der Hersteller, das BMVg und die zukünftigen Nutzer. Aber der Rest Deutschlands befindet sich augenscheinlich noch im Friedensmodus.

Dorothee Frank

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