Offiziersskandal in der Türkei

„Gegen wen zieht ihr eure Säbel?“, fragte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan frisch ernannte Leutnante, die ihn durch einen Schwur auf die Republik nach dem offiziellen Schwur verärgert hatten. Erneut knirscht es zwischen Politik und Militär in der Türkei. Die diesjährige Abschlussfeier der Nationalen Verteidigungsuniversität führte zu einem Skandal, der auch über eine Woche später die türkischen Medien beherrscht. Beweist die jüngste Offiziersgeneration, dass das säkulare Militär Atatürks doch nicht unter der Kontrolle der religiösen Regierung steht? Eine Schilderung der jüngsten Ereignisse.

Skandal: Unmittelbar nach der offiziellen Abschlusszeremonie strömen die türkischen Leutnante zum Säbelschwur um die Jahrgangsbeste Leutnant Ebru Eroğlu.
Skandal: Unmittelbar nach der offiziellen Abschlusszeremonie strömen die türkischen Leutnante zum Säbelschwur um die Jahrgangsbeste Leutnant Ebru Eroğlu.
Foto: Screenshot, unbekannt

Der Vorfall bei der Abschlusszeremonie der Kara Harp Okulu (türk. Heeresakademie) hat sowohl politische als auch militärische Reaktionen hervorgerufen und die Diskussion über die Rolle des Militärs in der türkischen Politik neu entfacht. Nach dem Ergenekon-Prozess und der Niederschlagung des „Putschversuchs“ am 15. Juli 2016 galten die letzten säkularen Widerstände in der zweitgrößten NATO-Armee eigentlich als gebrochen und das Militär als auf Linie gebracht.

Doch als am 30. August (Tag des Sieges, türkischer Feiertag) nach der offiziellen Abschlusszeremonie der Heeresakademie frisch gebackene Leutnante zur diesjährigen Jahrgangsbesten strebten, reckten sie ihre Säbel in die Höhe und sorgten mit dem mehrfachen Ausruf „Mustafa Kemal’in askerleriyiz“ (Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals) für einen Skandal in der Türkei. Der Spruch ist auch unter säkularen Zivilisten beliebt, um sich in die Tradition des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und damit in Opposition zur gegenwärtigen islamistischen Regierung zu stellen.

Dieser Tag wird Staatspräsident Erdoğan wahrscheinlich in keiner guten Erinnerung bleiben, dabei hatte er noch wenige Minuten zuvor die diesjährigen Offiziersanwärter besonders gelobt. In seiner Ansprache in Istanbul hob Erdoğan hervor, dass in diesem Jahr die Jahrgangsbesten in allen drei Militärakademien (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) erstmals Frauen waren. Alle drei erhielten ihr Diplom vom Präsidenten ausgehändigt.

Um eine von ihnen – Leutnant Ebru Eroğlu – sammelten sich allerdings nach Ende der offiziellen Zeremonie beinahe alle anwesenden Leutnante der Landstreitkräfte, während Präsident Erdoğan mit anderen Offiziellen bereits auf dem Weg in eine Moschee war.

Auf mehreren, unter anderem von der Tageszeitung Cumhuriyet veröffentlichten, Videos ist zu sehen, wie die jungen Soldaten – die allesamt in diesem Jahrtausend geboren und nie eine andere politische Führung als die Erdoğans kennengelernt haben – mit gezückten Säbeln vor die Tribünen laufen.

Skandal: „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“

Nach dem oben genannten Ausruf, Soldat Atatürks zu sein, folgte ein von Leutnant Eroğlu rezitierter Offiziersschwur auf die laizistische und demokratische Republik Türkei, an deren Abbau Präsident Erdoğan mit seiner Regierungspartei AKP seit über 20 Jahren arbeitet. Der Schwur wird seit dem „Putschversuch“ 2016 nicht mehr offiziell verwendet.

Wortlaut des zweiten, inoffiziellen Schwurs der türkischen Offiziersanwärter:

Wir schwören, dass die Hände, die nach der Unabhängigkeit der säkularen, demokratischen Republik Türkei, nach der unteilbaren Integrität des Landes, nach der Ehre und Würde der großen türkischen Nation und nach einem Zentimeter Boden des geliebten Vaterlandes greifen, auf uns treffen werden. Unsere Schwerter werden immer scharf und bereit sein.
Wir sind die Kinder der türkischen Zukunft. Wir wurden mit Ehre geboren, wir werden mit Ehre leben.
Glücklich derjenige, der sich Türke nennt.

Erdoğans harsche Antwort auf den Skandal der Leutnante erfolgte mit einer Woche Verzögerung. Beim Kongress der religiösen Imam-Hatip-Schulen sagte er: „Einige Übeltäter sind bei der Abschlusszeremonie mit gezogenen Säbeln aufgetreten. Gegen wen zieht ihr eure Säbel? […] Es können 30 Personen gewesen sein, es können 50 Personen gewesen sein. Egal, wer sie sind, es ist nicht zulässig, dass sie in unserer Armee sind. Wir werden sie säubern (sic!).“

Die Beste ihres Jahrgangs: Leutnant Ebru Eroğlu (r.) erhält vom türkischen Preäsidenten Recep Tayyip Erdoğan ihr Diplom.
Die Beste ihres Jahrgangs: Leutnant Ebru Eroğlu (r.) erhält vom türkischen Preäsidenten Recep Tayyip Erdoğan ihr Diplom.
Foto: Verteidigungsministerium Türkei

Nach türkischen Medienberichten wurden bereits Ermittlungen gegen die jungen Offiziere eingeleitet und einige von ihnen beurlaubt. Es sollen „im Rahmen der Disziplinargesetze Maßnahmen ergriffen“ werden.

Opposition hält zu den Offizieren

Unklar bleibt, an was genau sich der türkische Präsident stört. Das Erheben eines Säbels allein kann es eigentlich nicht sein, denn ein solcher wurde vor vier Jahren auch in Erdoğans Anwesenheit bei der Umwidmung des Istanbuler Museums Hagia Sophia in eine Moschee vom Chef der türkischen Religionsbehörde gezogen. Bedeutung während der Predigt damals: Eroberung. Erdoğan weiß also um die Bedeutung eines erhobenen Säbels, sollte dieser tatsächlich gegen ihn gerichtet sein.

Daneben gilt, dass die Ausrufe und die Formel des „Säbeleids“ keinesfalls verboten sind, sodass die Begründung für eine eventuelle Entlassung beteiligter Offiziere spannend wird. Politisch ist der Skandal weiterhin brisant. Ekrem İmamoğlu – Bürgermeister von Istanbul und aussichtsreicher Gegenkandidat für das Präsidentschaftsamt – forderte die Leutnante auf, ihren Loyalitätsschwur gegenüber Staatsgründer Atatürk zu bekräftigen.

Eindruck von der Abschlusszeremonie der Heeresakademie.
Eindruck von der Abschlusszeremonie der Heeresakademie.
Foto: Nationale Verteidigungsuniversität der Türkei

Ebenso verteidigten andere Oppositionspolitiker wie CHP-Chef Özgür Özel die jungen Offiziere mit der rhetorischen Frage, ob sie in Anlehnung an den damaligen Befehlshaber der Griechen besser „Wir sind die Soldaten des Nikolaos Trikoupis‘“ hätten rufen sollen.

Regierung um Beschwichtigung des Skandals bemüht

Der Vorsitzende der rechts-nationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, sagte hingegen: „Es ist unbedingt erforderlich, dass der Vorfall mit dem zweiten Eid in jeder Hinsicht geklärt wird.“ Bahçeli muss den Spagat zwischen Koalitionspartner Erdoğan und der eigenen Verehrung Atatürks schaffen.

Auch andere Regierungspolitiker riefen dazu auf, die Ergebnisse der Ermittlungen abzuwarten. „Es gibt nichts Natürlicheres“, versuchte beispielsweise AKP-Sprecher Ömer Çelik zu beschwichtigen, „als dass unsere Leutnante bei ihren Abschlussfeierlichkeiten des ewigen Oberbefehlshabers unserer Armee, Gazi Mustafa Kemal Atatürk, gedenken.“ Das wiederum sorgte jedoch in den eigenen Reihen für Kritik.

Präsident Erdoğan überreicht den beiden Jahrgangsbesten der Akademie der Luftstreitkräfte, İkra Kuyumcu, und der Akademie der Seestreitkräfte, Şeyda Yıldırım, ihre Diplome.
Präsident Erdoğan überreicht den beiden Jahrgangsbesten der Akademie der Luftstreitkräfte, İkra Kuyumcu (l.), und der Akademie der Seestreitkräfte, Şeyda Yıldırım (r.), ihre Diplome.
Fotos: Nationale Verteidigungsuniversität der Türkei

Innerhalb des Militärs wurde bereits auf den Skandal reagiert: Neben der Beurlaubung von Leutnant Eroğlu wurden einige ihrer Fotos von den offiziellen Kanälen der Armee gelöscht. So hält beispielsweise der Twitter-Account der türkischen Militärakademie nur noch die Jahrgangsbesten der See- und Luftstreitkräfte namentlich und bildlich fest.

Spaltung in der Türkei zeigt sich wieder einmal im Militär

Die politisch und medial geführte Auseinandersetzung um die geleisteten Eide türkischer Leutnante zeigt einmal mehr die tiefen Spannungen zwischen den politischen Lagern in der Türkei. Auch nach über 20 Jahren AKP-Herrschaft sind die Ideale einer demokratischen und laizistischen Türkei nach Atatürks Vorbild in den Reihen der Armee nicht überwunden.

Welche Bedeutung der Skandal vom 30. August 2024 für die Politik in Anatolien haben wird, ist noch nicht abzusehen. Mancherorts wird bereits ein weiterer Putsch vorausgesagt – mit Blick auf den Atatürk-treuen Offiziersnachwuchs scheint das nicht einmal abwegig.

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