In der öffentlichen Wahrnehmung über den Ukrainekrieg dominiert die Artillerie und ihre Rolle für den Abwehrkampf des ukrainischen Heeres. Zurzeit werden die Munitionsknappheit der Ukraine und die damit einhergehenden Folgen für die Operationsführung in den Medien diskutiert. Mehr über die Bedeutung und Zukunft von weitreichendem Feuer für das deutsche Heer, hat unser Gastautor, Generalleutnant Harald Gante, Kommandeur Feldheer, in der letzten Ausgabe des cpmFORUMs geschildert.
Die Rolle von weitreichendem Feuer hat im Ukrainekrieg eine besonders hohe Bedeutung, da zwei zum Teil noch sowjetisch geprägte Armeen aufeinandertreffen. Nach sowjetischer Doktrin wird die Artillerie durch andere Truppengattungen unterstützt und nicht umgekehrt, wie in der deutschen Kampfweise.
Nach dem gescheiterten Angriff auf Kiew haben sich die russischen Streitkräfte wieder stärker entlang der sowjetischen Doktrin ausgerichtet. Weitreichendes Feuer bereitet den Angriff der mechanisierten Kräfte mit massivem Munitionseinsatz vor. Das Gefecht der russischen Streitkräfte ist somit eher starr. Es gelingt den russischen Streitkräften kaum, schnell und flexibel auf Lageänderungen zu reagieren.
Resultate sind Eigenbeschuss oder die Hemmung der eigenen Bewegungen. Ein Joint-Fire-Konzept ist zwar grundsätzlich Bestandteil der russischen Doktrin, wonach das Artilleriefeuer eng und fortlaufend mit den Kampftruppen abgestimmt werden soll. Es findet in der Ukraine jedoch kaum Anwendung, was mit dem Ausbildungsstand der russischen Truppen zusammenhängen könnte.
Beide Kriegsparteien führen außerdem den Kampf in der Tiefe durch Artilleriesysteme. Ein Bestandteil davon ist das sogenannte „Counter-Battery-Fire“, welches die gegnerische Artillerie zum Ziel hat. Beide Parteien haben daher Maßnahmen entwickelt, um ihre Artilleriesysteme besser zu schützen. Eine grundsätzlich bekannte und einfache Maßnahme musste erneut erlernt werden: die Auflockerung. Die russischen und die ukrainischen Streitkräfte haben erneut begonnen, die Abstände zwischen den Geschützen zu vergrößern.
Die Vernichtung logistischer Knotenpunkte der russischen Streitkräfte durch die ukrainische Raketenartillerie unterstreicht die Bedeutung des Kampfes in der Tiefe und seine langfristigen Effekte. Durch die Vernichtung der Knotenpunkte wurden die russischen Streitkräfte gezwungen, den Abstand zwischen den Kampftruppen und der Logistik zu vergrößern. Die Versorgung der russischen Kampftruppen erfolgt langsamer, wodurch sich deren Einsatzwert verringert.
Der Einsatz der Artillerie hat sich im vergangenen Jahrzehnt bedeutsam gewandelt; auch wenn der an vielen Abschnitten beobachtbare Stellungskrieg in der Ukraine an den ersten Weltkrieg erinnert. Neue Technologien, wie UAVs (Unmanned Aerial Vehicles) und eine zunehmende Vernetzung, verändern das Gefechtsfeld und auch die Einsatzgrundsätze der Artillerie.
Die deutsche Artillerie muss den Lehren aus dem Ukrainekrieg und der Integration neuer Technologien gerecht werden. Um kriegstüchtige Großverbände aufzustellen, hat das Heer strukturelle Anpassungen im Rahmen der Einnahme Zielbild Einsatzkräfte Heer vorgenommen und die Beschaffung neuer Waffensysteme für die Artillerie angestoßen.
Aufwuchs der Artilleriekräfte im Heer
An der geringen Zahl von Artilleriebataillonen im Heer lässt sich die vergangene Schwerpunktsetzung des Heeres auf das internationale Krisenmanagement deutlich ablesen. Nach der Wiedervereinigung zählte das Deutsche Heer noch 83 Artilleriebataillone, deren Zahl sukzessive auf nur noch vier Verbände in der Heeresstruktur HEER2011 zusammenschrumpfte.
Drei der vier verbliebenen Bataillone wurden den zwei mechanisierten Divisionen des Heeres unmittelbar unterstellt. Nur die Deutsch-Französische Brigade behielt mit dem Artilleriebataillon 295 ihr eigenes Bataillon zur Feuerunterstützung.
Der Abbau der Artillerietruppe wurde mit ihrer geringen Bedeutung für die Auslandseinsätze der Bundeswehr begründet. Im Rahmen der Fokussierung auf das internationale Krisenmanagement wurde strukturell, personell und materiell die Befähigung zum Einsatz in der Landes- und Bündnisverteidigung nach heutigen Maßstäben aufgegeben. Vor allem die im Gefecht entscheidende Brigadeebene wurde geschwächt und war zum Kampf der verbundenen Waffen nicht mehr befähigt.
Künftig wird das Deutsche Heer wieder über zehn Artilleriebataillone verfügen. Alle mittleren und schweren Brigaden erhalten somit Artillerieverbände zur unmittelbaren Feuerunterstützung der eigenen Kräfte zurück. Weiterhin wird eine Trennung in der Ausstattung der Brigadeartillerie auf der einen Seite und der Divisions- sowie Korpsartillerie auf der anderen Seite vorgenommen. Die Reichweiten der jeweils verfügbaren Artilleriesysteme sind dadurch an die Ausdehnung der Verantwortungsbereiche der unterschiedlichen Führungsebenen angepasst.
Im Zuge der Umgliederung oder Neuaufstellung werden die Artilleriebataillone auf der Brigadeebene ausschließlich mit Rohrartilleriesystemen als Hauptwaffensystem ausgestattet. Die Brigaden der Schweren Kräfte nutzen weiterhin die Panzerhaubitze 2000 und die neu aufzustellenden Brigaden der Mittleren Kräfte sowie die Artilleriebataillone der Divisionen werden perspektivisch mit der noch einzuführenden Radhaubitze RCH 155 (Remote Controlled Howitzer 155mm) ausgestattet.
Das System besitzt eine weitgehend logistische Gleichheit mit dem GTK BOXER und ist ein wesentlicher Baustein für die Herstellung der Einsatzbereitschaft der Mittleren Kräfte. Sowohl die Radhaubitze RCH 155 als auch die Panzerhaubitze 2000 nutzen die gleichen Munitionssorten und werden mit der reichweitengesteigerten Vulcano-Munition bis zu 70 km weit wirken können.
Die Artilleriebataillone der Korps- und Divisionstruppen werden zudem mit Raketenartilleriesystemen ausgestattet. Dazu wird der MARS II-Raketenwerfer zunächst weitergenutzt und zusätzlich ein neues, radbasiertes Raketenwerfersystem beschafft. Als Ersatzbeschaffungen für die an die Ukraine abgegebenen MARS-Raketenwerfer werden bereits Mitte 2025 PULS-Raketenwerfer der Bundeswehr zulaufen. Mit neu zu entwickelnden Raketen soll die Reichweite der Raketenartillerie auf über 300 km gesteigert werden.
Mit den weitreichenden Raketenartilleriesystemen können Divisionen und Korps tief in den Operationsraum des Gegners wirken, um diesen früh abzunutzen, Hochwertziele zu ver nichten und den Gegner zu lenken. Die große Reichweite der Raketenartilleriesysteme versetzt die Divisionen und Korps in die Lage, ihrem Auftrag, vorteilhafte Rahmenbedingungen für die Gefechtsführung der Brigaden zu schaffen (sog. „shaping the battlefield“), künftig besser gerecht zu werden.
Die Stärkung der Artillerie kann nur nachhaltig sein, wenn auch die Produktionskapazitäten für Munition ein kriegstaugliches Niveau erreichen. Die ukrainische Artillerie verbraucht nach aktuellen Schätzungen etwa 90.000 Geschosse pro Monat. Demgegenüber produzieren die EU-Staaten derzeit noch nur 20.000 Geschosse pro Monat. Durch den Bau neuer Munitionswerke werden sich die europäischen und vor allem auch deutschen Produktionskapazitäten künftig deutlich steigern. Doch auch langfristig müssen die Produktionskapazitäten für Munition durch Rahmenverträge aufrechterhalten bleiben.
Flexibilität und Geschwindigkeit
Von der Zielmeldung bis zum Einschlag der Artilleriegranaten sollen derzeit nicht mehr als sieben Minuten vergehen. Die Geschwindigkeit des modernen Gefechts lässt derartig lange Anforderungszeiten nicht mehr zu. Es drängt sich daher die Frage auf, wie weit sich der Zeitansatz zur Verarbeitung einer Zielmeldung vom sensor (z. B. Drohne der Kampftruppe) bis zum shooter (z. B. Geschützzug der Rohrartillerie) verkürzen lässt. In einem vollständig digitalisierten sensor-to-shooter-Wirkverbund würde diese Zeit wesentlich kürzer werden.
Insbesondere beim Counter-Battery-Fire ist eine schnelle Feuerleitung notwendig, um die gegnerische Artillerie nach Aufklärung schnellstmöglich zu bekämpfen und die eigenen Artilleriekräfte vor dem Zerschlagen zu schützen. Moderne Artilleriesysteme können dafür entweder unmittelbar aus einem kurzen Stopp heraus ein Feuerkommando ausführen
oder sogar, wie die Radhaubitze RCH 155, aus der Fahrt schießen. Damit lassen sich die eigenen Kräfte schützen. Gleichzeitig sind Methoden zu entwickeln, solche „beweglichen Ziele“ trotzdem zu treffen, falls der Gegner die gleiche Mobilität besitzt. Dazu muss nach Erkennen eines Abschusses der vermutliche Standort der Artilleriesysteme nach Weiterfahrt berechnet und als Zielkoordinate verwendet werden können oder endphasengelenkte Geschosse eingesetzt werden, welche noch kurz vor dem Aufschlag auf ein mögliches Ziel in der Nähe gelenkt werden können.
Auch im Ukrainekrieg werden neben den vermuteten Stellungen der Geschütze auch in der Nähe befindliche Zielpunkte, welche die Möglichkeit zur Deckung bieten (z. B. Waldränder), beschossen. Methoden der Künstlichen Intelligenz könnten dabei unterstützen, die Feuerleitung durch bessere Prognosen weiterzuentwickeln.
Weiterentwicklung von weitreichendem Feuer
Neben der Artillerie findet der Einsatz von UAVs im Ukrainekrieg viel Beachtung. UAVs werden von beiden Seiten sowohl zur Aufklärung als auch zur Wirkung, in Form von bewaffneten UAVs oder loitering munition, eingesetzt. Anfang des Jahres kündigte Präsident Wolodymyr Selenskyj sogar die Schaffung einer neuen Truppengattung namens „unbemannte Systeme“ an, um der wachsenden Bedeutung dieser Systeme im Ukrainekrieg gerecht zu werden.
Wie die meisten westlichen Nationen hat Deutschland jahrelange Erfahrung mit dem Einsatz von UAVs. Diese beschränken sich jedoch auf begrenzt verfügbare, komplexe Systeme, die bis vor kurzem ausschließlich unbewaffnet waren. Künftig werden UAVs zur Aufklärung und Wirkung auf allen Führungsebenen, von der Gruppe bis zur Divisionsebene, mit abgestimmten Fähigkeiten und abgestuften Reichweiten verfügbar sein müssen. Ab der Brigadeebene werden sich die Reichweiten und Einsatzmöglichkeiten der UAVs mit den Aufgaben der Artillerietruppe und Heeresaufklärungstruppe überschneiden.
Gleichzeitig wächst durch den Einsatz der UAVs die Menge der verfügbaren Sensoren, welche Zieldaten für Effektoren wie beispielsweise die Artillerie liefern können. Es muss daher nach Möglichkeiten gesucht werden, die Aufgaben und Sensoren dieser beiden Truppengattungen effektiv abzustimmen und Daten einheitlich und möglichst verzugslos zu verarbeiten. Eine Möglichkeit dafür haben die britischen Streitkräfte mit dem Deep Reconnaissance Strike Brigade Combat Team entwickelt, in denen UAVs, Aufklärungskräfte und weitreichende Artillerie für den Kampf in der Tiefe zusammengefasst wurden.
Damit das Heer auf Augenhöhe mit seinen Gegnern kämpft und bestenfalls überlegen ist, müssen wir ebenfalls neue Wege gehen und können uns nicht auf einem einmal festgelegten Endzustand für die Streitkräfte im Allgemeinen und die streitkräftegemeinsame taktische Feuerunterstützung im Besonderen ausruhen. Innovationszyklen sind heute um ein Vielfaches kürzer als noch vor wenigen Jahrzehnten. Zudem ist der primäre Treiber von Innovationen nicht mehr das Militär, sondern der zivile Bereich.
Für die Fähigkeitsentwicklung von Armeen kommt es daher jetzt darauf an, Innovationen aus dem zivilen Bereich schnell für militärische Anwendungen zu adaptieren. Dies erfordert ein lernendes System, welches Lehren aus Konflikten und technologische Innovationen aufnimmt, testet und bei Bewährung auf das gesamte Heer ausweitet.
Darauf nachfolgende strukturelle Anpassungen oder Anpassungen in der Ausbildung müssen gewöhnlicher Bestandteil dieses Anpassungsprozesses werden. Am Anfang einer solchen anpassungsfähigen Organisation steht immer das richtige Mindset der Beteiligten.
Schlussbemerkungen
So wie sich die Schwerpunktsetzung des Heeres auf das internationale Krisenmanagement am Abbau der Artilleriebataillone ablesen ließ, ist ihr Wiederaufbau ein Gradmesser für die Ausrichtung des Deutschen Heeres auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Aber sowohl Rohr- als auch Raketenartillerie für weitreichendes Feuer sind ihrerseits nur Einzelelemente des komplexen Systems Landstreitkräfte. Die Wiederherstellung der Kriegstüchtigkeit des Heeres wird nur gelingen, wenn alle Zahnräder dieses Systems wieder ineinandergreifen.
Generalleutnant Harald Gante,
Kommandeur Feldheer, Kommando Heer
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