Bereits der chinesische Militärstratege Sun Tsu erkannte, dass Kriege auch durch die Erlangung und Verarbeitung von Informationen entschieden werden können. Diesem Umstand trägt die Lagefeststellung im Führungsprozess der Bundeswehr Rechnung. Der hier folgende Beitrag aus dem cpmFORUM 5/23 der beiden Autoren Ole Donner und Philipp Starz erläutert die Herausforderungen für Analysten im digitalen Zeitalter, geht dabei aber auch auf die Chancen von Open Source Intelligence und künstlicher Intelligenz für die Zeitenwende der Bundeswehr ein.
Ziel der Lagefeststellung ist es, über eine bessere Informationsgrundlage als der militärische Gegner (Informationsüberlegenheit) zu verfügen, damit klügere Entscheidungen getroffen werden können (Entscheidungsüberlegenheit), die ihrerseits in effektiverer Wirkung münden (Wirkungsüberlegenheit). Um Informationsüberlegenheit zu erreichen, dient das Militärische Nachrichtenwesen der Bundeswehr.
Dies liefert das, was im englischen Sprachraum unter dem Begriff „Intelligence“ firmiert. Laut NATO-Terminologie ist Intelligence das Produkt, das aus der gezielten Sammlung und Verarbeitung von Informationen über das Umfeld sowie den Fähigkeiten und Absichten der Akteure entsteht, um Bedrohungen und Chancen zu erkennen sowie den eigenen Entscheidungsträgern Möglichkeiten des Handelns aufzuzeigen.
Demokratisierung von Informationen und Open Source Intelligence
Während in der Vergangenheit fast ausschließlich Nachrichtendienste und Streitkräfte über Informationen verfügten, die dem Zweck dienten, militärische Konflikte detailliert abzubilden, haben das Informationszeitalter und die globale Digitalisierung zu einer weitgehenden Demokratisierung auch von nachrichtendienstlich und militärisch wertvollen Informationen geführt. Open Source Information (OSIF) – also öffentlich zugängliche Informationen – und Open Source Intelligence (OSINT) – also die zielgerichtete und strukturierte Auswertung dieser Informationen, um zur Deckung eines bestimmten nachrichtendienstlichen oder militärischen Informationsbedarfs beizutragen – sind Ausflüsse dieser Entwicklung.
Spätestens der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass heutzutage zivile Anbieter und sogar Privatpersonen fähig sind, schnell akkurate Lageinformationen zu generieren, wozu früher nur staatliche Organisationen im Stande waren. Waren früher die Verlustzahlen gegnerischer Panzer in einem Krieg nur in eingestuften Dokumenten des Militärischen Nachrichtenwesens zu finden, kann man die materiellen Verluste anhand von visuellen Beweisen und Open-Source-Informationen aus sozialen Medien auf Webseiten wie des niederländischen Projekts zu Open Source Intelligence ORYX nachverfolgen.
Echtzeit-Internet-Feeds sozialer Medien bzw. Messenger-Dienste wie Twitter/X, Telegram und TikTok beeinflussen mittlerweile die informationelle Lageverdichtung auf dem Kriegsschauplatz. Wie dicht der Clausewitzsche „Nebel des Krieges“ auf dem heutigen Schlachtfeld ist, hängt vor allem davon ab, welches Mediennutzungsverhalten Konfliktbeteiligte und Zivilisten aufweisen und wie häufig Informationen in Sozialen Medien geteilt werden.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass je weniger Achtsamkeit oder Operations Security (OPSEC) innerhalb von Streitkräften vorhanden ist, desto höher ist die Gefahr, durch gegnerische OSINT-Fähigkeiten aufgeklärt zu werden. Die ukrainische Seite setzt hier auf die eigene Bevölkerung als Sensor und Collector von militärisch relevanten Informationen.
Aus diesem Grund wurde ein Chatbot für den Messenger-Dienst Telegram entwickelt, mit dem die Zivilbevölkerung Informationen über Bewegungen, Verluste, Zerstörungen oder Kriegsverbrechen der russischen Truppen an das ukrainische Militärische Nachrichtenwesen ohne Zeitverluste liefern kann und diese Informationen, soweit möglich, in verwertbare Endprodukte für militärische Angriffe umgewandelt werden.
All diese Aspekte gilt es in der Debatte um die Neuausrichtung der deutschen Streitkräfte infolge der Zeitenwende und der Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung zu berücksichtigen.
Anforderungen an Analysepersonal
Aufgrund der Informationsflut sind auch die Anforderungen an das Analysepersonal gestiegen. Die Extraktion relevanter Informationen aus zunehmend riesigen, unstrukturierten Datenmengen (Big Data) ist zu einer analytischen Herausforderung geworden und erfordert spezielle Technologien und Analysemethoden. Analysten müssen nicht nur mehr Zeit darauf verwenden, aus der Masse an Informationen herauszufiltern, was relevant ist, sondern sie können quasi unbegrenzt selbst nach öffentlich verfügbaren Informationen recherchieren.
Die so gewonnenen Informationen sollten dann durch die Anwendung Strukturierter Analysetechniken (Structured Analytic Techniques SATs) innerhalb eines koordinierten Prozesses (Intelligence Cycle) zu Open Source Intelligence veredelt werden. Denn ohne einen strukturierten Prozess besteht das Risiko, dass händisch gewonnene Informationen im Analyseprozess überbewertet werden. Das ist vor allem dann zu beobachten, wenn der Aufwand, der für die Gewinnung notwendig war, als unbewusstes Gütekriterium zugrunde gelegt wird. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn die Recherche multilingual erfolgt.
Analysetechniken stellen in diesem Kontext ein Gegengewicht zur intuitiven Analyse dar, indem sie das Analysepersonal zwingen, alle relevanten Informationen zu berücksichtigen und nicht nur jene, die aus welchen Gründen auch immer gerade präsenter sind. Sie werden eingesetzt, um die Qualität von Analyseprodukten zu verbessern und bieten einen systematischen Rahmen zur strukturierten Erfassung, Bewertung und Interpretation von Informationen. Beispiele für SATs sind u. a. Szenarioanalyse, Analyse konkurrierender Hypothesen, Cluster Brainstorming und Red Teaming.
Mögliche Unterstützung durch künstliche Intelligenz/Maschinelles Lernen
Mit Blick auf die Gefahr der Übergewichtung händisch gewonnener Informationen können technische Innovationen helfen, indem Bearbeitungsschritte des Intelligence-Cycles automatisiert, strukturiert und vereinfacht werden. Durch Künstliche Intelligenz (KI) bzw. Maschinelles Lernen (ML) – also der Fähigkeit einer Maschine, Aufgaben auszuführen, die normalerweise menschliches Eingreifen erfordern würde – unterstützte OSINT-Tools und Techniken wie Natural Language Processing (NLP), Sentiment-Analyse, Bild- und Videoverarbeitung, oder Social-Network Analysis können große Datenmengen durchforstet, auf Relevanz geprüft und bearbeitet werden.
Sprachmodelle können verwendet werden, um Analysten dabei zu helfen, große Mengen textbasierter Informationen, wie sie in sozialen Medien oder in unstrukturierten Datensätzen zu finden sind, zusammenzufassen, was möglicherweise Stunden an Analystenzeit einsparen könnte. Beispielsweise können die GPT-Sprachmodelle von OpenAI unstrukturierte Daten in ein leicht verständliches Tabellenformat formatieren. Auf diese Weise kann eine extrem große Datenmenge vereinheitlicht und verarbeitbar gemacht („Collation“) und dem Analysepersonal für ihre Kernaufgabe angeboten werden.
Die so bereitgestellte Informationsgrundlage ist übersichtlicher und damit handhabbarer als die Gesamtheit der verfügbaren Rohinformationen. Als Startpunkt für die weitere Analyse ist sie aber immer noch umfangreicher, als eine durch das Analysepersonal händisch gewonnene Informationsgrundlage. Auf diese Weise wird das Risiko reduziert, Informationen zu viel Gewicht beizumessen, weil diese mühsam manuell recherchiert werden mussten.
Der Einsatz von spezialisierter KI/ML erlaubt es zudem, dass sich Analysepersonal auf menschliche Kernqualitäten wie der qualitativen Bewertung der Informationen und die Formulierung von Handlungsempfehlungen konzentrieren kann. Dies geschieht vornehmlich durch das Aufwerfen relevanter Fragestellungen, das Ergründen von Ursachen und Motiven und den Einsatz von Kreativität.
Die Verwendung von KI/ML-gestützem OSINT stellt jedoch neue individuelle Fertigkeiten an das Analysepersonal. Weiterhin ist es wichtig, KI/ML-generierte Ergebnisse zu validieren und sie für eine umfassende Analyse mit menschlichem Fachwissen zu kombinieren. Diese Veränderung im Anforderungsprofil ist ein nicht ganz unerheblicher Faktor für militärisches Analysepersonal, denn in den kommenden Jahrzehnten könnte KI die Art und Weise revolutionieren, wie Krieg geführt wird.
Landes- und Bündnisverteidigung in der Zeitenwende
Die militärischen Organisationen, die sich am besten an diese KI-Revolution anpassen und innovativ sind, werden wahrscheinlich erhebliche Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten haben. Insbesondere vor dem Hintergrund der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) wird es zunehmend wichtiger, schnelle und verzerrungsarme Lagebilder für hochdynamische Situationen bereitstellen zu können. Anders als bei den Einsätzen des internationalen Krisenmanagements der letzten Dekaden verzeiht eine intensive „Multi-domain operation“ im Verteidigungsfall weniger Fehler und kaum zeitliche Verzögerungen bei der Generierung eines umfassenden Lagebildes.
Daten, Informationen und deren zeitgerechte Bearbeitung werden damit zum neuen militärischen Goldstandard. Diejenigen, die über die geeigneten Daten und Informationen verfügen, Muster und Entscheidungen produzieren können, erlangen einen entscheidenden operativen Vorteil. Die Geschwindigkeit und Präzision der Datenzusammenführung, die Validierung von Quellen und die Erstellung von Hypothesen für Frühwarnungen oder sich abzeichnende Trends waren bisher durch die begrenzten Kapazitäten nur in geringer Zahl eingesetzter Analysten eingeschränkt.
Wenn nicht gleichzeitig ein Großteil der verfügbaren relevanten Informationen ausgeblendet werden soll, bleibt für die deutschen Streitkräfte in der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ zum Einsatz von KI/ML unterstützten OSINT-Tools keine realistische Alternative. Andere NATO-Streitkräfte sind in diesem Bereich deutlich fortschrittlicher, setzen dafür enorme Ressourcen ein und bauen auf die Unterstützung ziviler Unternehmen.
So haben die US-Streitkräfte 2019 dem britischen Rüstungs-, Informationssicherheits- und Luftfahrtkonzern BAE Systems einenFünf-Jahres-Auftrag über 437 Millionen US-Dollar für eine moderne Unterstützung durch Open Source Intelligence erteilt. BAE Systems wird außerdem eine sichere Cloud-Hosting-Umgebung für diese Aktivitäten einrichten und verwalten.
Darüber hinaus hat das US-Verteidigungsministerium 2020 eine neue Datenstrategie veröffentlicht, die darauf abzielt, den Übergang des Ministeriums zu einer datenzentrierten Organisation zu beschleunigen, die Daten schnell und in großem Umfang nutzt, um operative Vorteile zu erzielen und die Effizienz zu steigern. Die Strategie betont die Verwaltung von Daten als strategische Ressource und die Bedeutung von Daten für die Informationsüberlegenheit sowie die Notwendigkeit, Informationssysteme gleichrangig mit der Priorität zu behandeln, die Waffensystemen eingeräumt wird.
Es ist deshalb etwas überraschend, dass OSINT in den deutschen Streitkräften als eigenständige Aufklärungsdisziplin im Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) erst seit 2022 im Zuge der deklarierten Zeitenwende einen Beitrag zur Deckung der Informationsbedarfe des Militärischen Nachrichtenwesens der Bundeswehr leistet sowie erstmals strukturell und personell hinterlegt wurde.
Die im Aufbau befindliche Aufklärungsdisziplin wird durch das Joint Intelligence Center (JIC) Unterabteilung J2 wahrgenommen. Innerhalb der Bundeswehr wird zudem definitorisch und strukturell zwischen OSINT und „Open Source Analysis“ (OSA) unterschieden. Während OSINT als Aufklärungsdisziplin die Feindlage im Fokus der Betrachtung hat, liegt der Schwerpunkt bei OSA vielmehr auf den Stimmungsbildern, Wahrnehmungen, Meinungen von Zielgruppen sowie der Bedienung von Narrativen und Propagandamaßnahmen.
Neue Herausforderungen erfordern neue Antworten
OSINT und OSA sind erforderliche Disziplinen, um innerhalb der deutschen Streitkräfte zur Erreichung von Informationsüberlegenheit beizutragen. Die exponentielle Zunahme von OSIF und das durch die stärkere Ausrichtung auf die Landes- und Bündnisverteidigung abzudeckende Feld hoch intensiver Gefechte erlauben es nicht, im bisherigen Tempo der Fähigkeitsentwicklung zu verharren. Folglich sollten die Möglichkeiten, die KI/ML im Bereich Open Source Intelligence bietet, nicht verschlafen, sondern direkt integriert und von den Streitkräften in Zusammenarbeit mit geeigneten nationalen Anbietern forciert werden, um für die Bundeswehr auch eine „digitale Kaltstartfähigkeit“ herzustellen.
Auf diese Weise kann das Personal des Militärischen Nachrichtenwesens bei den Tätigkeiten „Collection“ und „Collation“ deutlich entlastet werden, um sich stärker auf menschliche Fähigkeiten und Qualitäten zu konzentrieren. Die im Militär häufig bemühte „Goldrandlösung“ wäre indes, direkt noch einen Schritt weiter zu gehen und KI/ML unterstützte Anwendungen durch ein Toolkit für strukturierte Analysetechniken zu ergänzen.
Ein derartiges Toolkit würde es dem Analysepersonal erlauben, Fragestellungen zu operationalisieren und Analysetechniken einzuplanen, um bei der anschließenden Durchführung dieser Techniken zu assistieren. Auf diese Weise könnten die Vorteile von KI/ML-unterstütztem Open Source Intelligence mit dem erforderlichen Skill-Set strukturierter, transparenter und kollaborativer Analyse für den Ernstfall eines LV/BV-Szenar verbunden werden.
Vor dem Hintergrund der Neuheit von Chatbots für Intelligence-Collection und der Verbreitung von KI/ML auf dem Schlachtfeld in der Ukraine ist jedoch unklar, inwieweit sich große, etablierte Militärorganisationen wie die Bundeswehr als agil genug beweisen werden, mit solchen Ideen ihre Informationsüberlegenheit zu sichern.
Ole Donner,
Trainer und Berater, Gründer „Strukturierte Analyse Deutschland“
Philipp Starz,
Senior Business Develoment Manager, Traversals Analytics and Intelligence GmbH